In der Berliner Zeitung ist ein Artikel erschienen, in dem ein Journalist sich über die Schlaf-Arrangements junger Familien wundert. Anlass dafür ist ein im Café mitgehörtes Gespräch zwischen zwei müden Müttern, die einander ihr Leid klagten über ihr unfreiwilliges Familienbett. Unglaublich, befindet der Kolumnist: Da schicken Eltern ihr Kind nicht einfach wieder ins eigene Bett, wenn es nachts Nähe sucht. Was für komische neue Moden sind das denn?
Er und seine Frau, die wussten ja noch wie das geht mit der vernünftigen Erziehung. Klar, am Anfang hielten sie der neugeborenen Tochter damals vor vielen Jahren auch noch das Händchen durch die Gitterstäbe, aber als besagtes Baby älter und die elterliche Erschöpfung größer wurde, ließen sie das Mädchen galt mal ein paar Stunden lang schreien. Und dann war auch Ruhe.
Warum das für die müden Mamas im Café und augenscheinlich immer mehr Menschen keine Option mehr darzustellen scheint, ist dem Journalisten schleierhaft. Seiner Tochter sei heute schließlich eine patente junge Frau. Keine Bindungsstörung, nicht mal eine kleine, diagnostiziert der Vater mit geübtem Blick. Ergo: Es wird ihr nicht geschadet haben. Und die jungen Eltern von heute sollen sich mal nicht so haben.
Wenn mittelalte Männer krisieren, dass heutige Eltern so weich sind und ihre Kinder nicht mehr weinen lassen, ist das eigentlich ein gutes Zeichen: Das Schreienlassen stirbt langsam aus!
Mein erster Gedanke beim Lesen dieses Artikels ist: Wie cool! Kinder nicht schreien ist unter mittlerweile so uncool, dass bereits mittelalte Männer in Zeitungen den Untergang eines Kulturguts beklagen. Dieses letzte Aufbegehren ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zum Aussterben – man denke nur an die Ewiggestrigen, die in den 1970er Jahren in großen deutschen Tageszeitungen noch das körperliche Züchtugungsrecht der Eltern verteidigten, bevor es endlich komplett abgeschafft wurde. Ein letztes Aufbäumen der schwarzen Pädagogik – als ewige Optimistin bin ich schwer in Versuchung, den Text vor allem so zu lesen.
Und doch lässt die Lektüre in mir vor allem ein Gefühl zurück: Mitleid. Mir tut die Tochter des Autoren leid, die, wie er uns verrät, Anais heißt. Mein Mitleid gilt dabei nicht der Anais von heute, der jungen Frau, deren von ihrem Vater beschriebene Lebensfreude ich gar nicht anzweifeln will. Die menschliche Seele ist widerständig, die steckt auch schmerzhafte Erfahrungen weg, ohne gleich daran zu zerbrechen.
Nein: Mein Mitgefühl gilt dem kleinen Mädchen von damals, das stundenlang weinte, und keiner kam. Das die Welt nicht mehr verstand, das litt und sich ängstigte. Und das irgendwann aufhörte zu schreien, weil dieses Verhalten in Menschkindern nun einmal angelegt ist: Wenn keine Hoffnung mehr besteht, dass jemand kommt, dann spare Energie und stell dich tot.
Mir tut Anais leid. Und zwar nicht die junge Frau von heute, der es augenscheinlich gut geht. Sondern das Baby davon damals, das um Hilfe schrie, und keiner kam.
Ich glaube dem Autor, dass er und seine Frau es nicht böse meinten damals. Es waren andere Zeiten, das gesellschaftliche Klima war ein anderes, Schreienlassen war so normal wie Wickeln und Füttern, es gehörte für die meisten einfach dazu. Doch das ändert nichts daran, dass auch damals jedes einzelne Baby gelitten hat, das alleine weinen gelassen wurde. Und dass es keinen Grund gibt, dieses Vorgehen heute zu verharmlosen und sich über Eltern zu amüsieren, die es besser machen wollen.
Unsre Kinder haben es verdient, dass wir für sie da sind und ihr Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit erfüllen, in der Nacht ebenso wie am Tag. Gleichzeitig haben wir natürlich das Recht und die Verantwortung, dabei auch gut für uns selbst und unsere eigenen Bedürfnisse zu sorgen. Mag sein, dass dieses Bewusstsein den Müttern im Café gefehlt hat. Doch das letzte, was ihnen hilft, ist dann ein Artikel, in dem sich ein Mann über ihre Inkonsequenz lustig macht – und dem das einsame Weinen der kleinen Anais als rühmliches Beispiel für gute Elternschaft entgegen stellt.
4 Comments on "Wer schlafen will, muss schreien lassen? Ein Kommentar"
Sabrina
20/12/2017Mich regen solche Artikel schon auf! Nicht, dass es für mich persönlich einen Unterschied macht: mein Baby und seine potentiellen Geschwister sollen in meiner Nähe schlafen bis sie soweit sind, ins eigene Zimmer zu ziehen. Da ist mir sein/ihr Wohlbefinden viel wichtiger, als was andere darüber denken mögen.
Aber andere Leute lesen solche Artikel und lassen sich möglicherweise verunsichern. Vielleicht müssen die einen oder anderen Babys seitdem alleine weinen. Oder Kleinkinder werden zurück in ihr Zimmer geschickt, obwohl sie dort Angst haben und die Nähe der Eltern gebraucht hätten.
Ich kann nur hoffen, dass dem nicht so ist.
kinderbett
13/07/2018Eine wirklich sehr schöne Arbeit!!
Björn
03/05/2019Ich finde es auch traurig zu hören, dass einige Kinder in ihren kleinen Bettchen umsonst schreien. :(
Allein die Vorstellung, ich könnte das nicht!
Das der Autor das nicht böse meinte, stimme ich dir zu. Wie oft haben wir bei unserem Großen die Storys von damals gehört: "Also bei uns hat man immer gesagt, man kann die ruhig mal schreien lassen!".
Ich persönlich finde den Gedanken schöner, für seine Kinder da zu sein, wenn sie weinen!
LG Björn
Mama Diavola
08/01/2023Das eigentliche Problem wird hier leider nicht besprochen: Zwei übermüdete Mütter, die es nicht schaffen, in dem von ihnen gewählten Schlafarrangement gut für ALLE, also auch für sich selbst zu sorgen. Das ist der Theorie nach KEIN bedürfnisorientiertes Familienleben.
Ich weiß aus dem spärlichen Kontext nun nicht, was die beiden Frauen daran hindert, nach einer Lösung für ihr offensichtliches Problem zu suchen. Doch es ist schlicht nicht bedürfnisorientiert, wenn das Mindset von uns Eltern nur die krasse, moralisch aufgeladene Polarisierung von Handlungsanweisungen kennt. Dann sind wir nämlich gerne mal gefangen zwischen "es gibt entweder nur Schreien lassen (und das ist per se böse)" und "schreien lassen ist böse; alles, was es verhindert, ist gut. Also ERTRAGE ES ALLES EINFACH." Dabei darf man sich gerne bei Freunden darüber beklagen, Wieviel und wie aufopferungsvoll ertragen wird, damit zeigt man schließlich, wie super bindungsorientiert man unterwegs ist. Man kriegt also immerhin soziale Pluspunkte als Ausgleich für den körperlichen und seelischen Raubbau an sich selbst. (An dieser Stelle sollten wir uns echt mal fragen: ist das wirklich das, was wir unseren Kindern vorleben wollen? Sollen sie tatsächlich dieses Mindset von uns erben?)
Das Problem, das sich aus diesem hochpolarisiertem Mindset nämlich sehr oft ergibt, besteht darin, dass wir keine Alternativen mehr finden (also jenseits von Schreien lassen auf der einen und einfach ertragen auf der anderen Seite). Einfach oft schon deshalb, weil wir viel zu erschöpft dafür sind. Weil wir den gefühlten Zustand der Alternativlosigkeit tief verinnerlicht haben. Und nicht zuletzt auch, weil wir irgendwie gar nicht mehr das Gefühl haben, auch im Erwachsenenalter noch basale Menschenrechte zu haben. Oder weniger pathetisch: weil wir nicht mehr auf dem Schirm haben, dass es noch andere, hunderte, Möglichkeiten gibt, die Bedürfnisse ALLER Familienmitglieder zu befriedigen, und weil wir vergessen haben, dass es absolut legitim UND auch bedürfnisorientiert ist, nach solchen anderen Lösungsmöglichkeiten zu suchen.
Zu erwähnen wäre außerdem, dass es bei dieser Vielfalt an Möglichkeiten durchaus auf ALLEN Seiten auch Abstriche geben darf. Dass wir Eltern schlicht ein Recht darauf haben, in den ersten drei Lebensjahren unserer Kinder nicht um dreißig Jahre zu altern, weil wir in der Zeit so schlecht für uns selbst sorgen.
Und vor allem, dass unsere Kinder ein Recht darauf haben, von uns zu lernen, wie das geht: die Suche nach anderen Lösungen und besonders das Ausbrechen aus dem mindset der deutschen Mutter, die sich ewig aufopfert.
Wenn wir unseren Kindern das nicht beibringen, dann sind wir um keinen Deut besser als Johanna Haarer.