Ohne Oma und Opa in der Nähe geht gar nichts – dieser Eindruck kann leicht entstehen, wenn man sich anguckt, an wie vielen Stellen ganz selbstverständlich davon ausgegangen wird, dass stets präsente Großeltern das moderne Familienleben unterstützen. In Ratgebern und Broschüren wird Babyeltern beispielsweise gern geraten, doch einfach mal die Oma mit dem Kinderwagen loszuschicken und sich währenddessen aufs Ohr zu hauen. Wird im Kindergarten oder im Hort gestreikt, steht im Elternbrief lapidar, es wäre schön, wenn die Großeltern in dieser Zeit die Betreuung übernehmen könnten. Und wenn Eltern mal wieder abends ausgehen wollen, sollen Oma und Opa halt mal Babysitten, das machen die sicher gerne.

Junge Eltern, die keine Verwandten vor Ort haben, werden dementsprechend oft mitleidig angeguckt: Schon schwer, so ganz ohne Familie in der Nähe, oder? Bloggerin Sophie von „Kinder haben und glücklich leben“ schrieb sogar neulich auf Facebook, sie könne sich gar nicht vorstellen, dass Familienleben ohne Großeltern-Unterstützung vor Ort überhaupt funktionieren könne.

Ich sehe das anders, und spreche dabei gleich doppelt aus Erfahrung: Meine eigenen Großeltern haben immer ein ganzes Stück von unserer Familie entfernt gelebt. Und heute leben auch die Großeltern unserer drei Kinder ganz woanders als wir. Gut geht es uns trotzdem, und nicht nur das: Ich finde, es hat auch Vorteile, wenn Oma und Opa ganz woanders wohnen!

1. Oma und Opa sind etwas ganz Besonderes
Für die meisten in meiner Kindergartengruppe gehörten die Großeltern zum Alltag: Sie waren einfach immer da. Das war einerseits sicher schön, andererseits auch so selbstverständlich, dass keines der Kinder sich besonders auf Oma-und-Opa-Zeit gefreut hätte. Das war bei mir ganz anders! Wenn meine Großeltern zu Besuch kamen, freute ich mich schon Tage im Voraus. Jedes Wiedersehen war ein Fest! Mein Bruder und ich  hüpften aufgeregt vor der Haustür auf und ab, wenn das vertraute Auto heranrollte. Wir schmückten das Gästezimmer mit selbst gepflückten Blumensträußen und malten Willkommensplakate. Wir fielen unseren Großeltern um den Hals und ließen sie ganz lange nicht mehr los. Wir genossen jede Minute ihres Besuchs. Und das nicht ein oder zwei Mal im Jahr, sondern etwa alle vier Wochen. Bei unseren Kindern erlebe ich es heute ganz ähnlich: Großelterntage sind Freudentage, die den Alltag durchbrechen und gerade deshalb so kostbar sind.

2. Nähe ist keine Frage von Kilometern
Als mein Mann und ich uns kennenlernten, hatten wir eine ganze Zeit lang eine Distanzbeziehung. Im Alltag trennten uns  knapp tausend Kilometer. Natürlich haben wir uns vermisst, aber als schlimm empfand ich dieses Lieben auch über viele Kilometer hinweg nicht – ich kannte es ja von klein auf. Eins der frühsten Gefühle, an die ich mich erinnern kann, ist das, meine Großeltern zu vermissen. Aber nicht auf traurige, verzweifelte Weise. Sondern voller Liebe und Vorfreude darauf, sich wiederzusehen. Sich nacheinander sehnen zu können ist etwas Wunderbares, finde ich – weil es erfahrbar macht, wie wichtig Menschen einander sein können, auch wenn sie nicht immer beieinander sind. Auch meine Kinder vermissen manchmal ihre Großeltern, klar. Aber auch sie können diese Gefühle bereits gut für sich einordnen: „Eigentlich ist es doch was Schönes, wenn man sich vermisst – daran merkt man doch, dass man sich lieb hat!“

3. Post für den Tiger
Als kleines Kind hatte ich ein Lieblingsbuch: „Post für den Tiger“ von Janosch. Ich fand es großartig, zu sehen, wie all die Tiere miteinander in Kontakt blieben, in dem sie sich Briefe schrieben, Päckchen schickten und am Ende sogar miteinander telefonieren konnten. Das entsprach nämlich genau meiner Lebenswirklichkeit: Mit meinen Großeltern blieb ich schließlich auch auf all diesen Wegen in Kontakt. In unserem Briefkasten landete regelmäßig Post für mich: Bunte Karten, lange Briefe, kleine Aufmerksamkeiten von Großvater und Großmutter oder von Oma und Opa. Gewissenhaft schrieb ich zurück: Erst in Form selbstgemalter Bilder, dann mit  ersten Karten in angestrengter Grundschulschrift, schließlich in seitenlangen Briefen, die ich mit Fotos und Zeichnungen schmückte. Zu jedem Geburtstag gehörte der fröhliche Gesang meiner Gratulanten aus dem Telefonhörer. Und noch heute rufe ich, wenn ich beim Kuchenbacken unsicher bin, meine Großmutter an. Dieser schnelle Griff zum Hörer, der sofort eine Verbindung schafft und Rat und Hilfe für mich bedeutet, ist mir schließlich seit frühster Kindheit vertraut. Und genauso halten es meine Kinder. Gut, sie schreiben weniger Briefe und mehr Sofortnachrichten auf Omas und Opas Smartphone. Sie skypen mehr, als sie telefonieren, und drehen Handyvideos, um von ihrem Alltag zu erzählen. Doch die Grunderfahrung bleibt die selbe: Es gibt viele Wege, miteinander verbunden zu bleiben und einander nah zu sein.

4. Freiheit für die Großeltern
Als ich ein Kind war, waren alle meine Großeltern schon im Ruhestand. Nach einem langen, arbeitsreichen Leben voller Verantwortung und Verpflichtungen hatten sie nun Lust, es sich gut gehen zu lassen. Sie reisten viel und gerne, verabredeten sich mit Freunden, gingen nach Herzenslust aus, und genossen diese neue Freiheit. Viele ihrer Freunde erlebten ihre Rente anders: Sie waren im Alltag ihrer erwachsenen Kinder so fest eingeplant, dass eine dreiwöchige Amerika-Reise außerhalb der Schulferien für diese jungen Familien echt zum Problem geworden wäre. Klar kann es auch ein schönes Gefühl sein, so gebraucht zu werden. Mir bereitete es jedoch bereits als Kind viel Freude, zu wissen: Zeit mit uns Enkeln zu verbringen ist für meine Großeltern zu keinem Zeitpunkt eine Verpflichtung. Sie können reisen, ausgehen, frei sein – und uns dann sehen, wenn sie darauf Lust haben. Genau dieses Gefühl wünsche ich mir auch für die Großeltern meiner Kinder: Sie sind ein wichtiger Teil unserer Familie, aber sie haben gleichzeitig alle Freiheiten, zu tun und zu lassen, was sie mögen. Unsere Kinder und wir verbringen Zeit mit ihnen, weil uns das Freude macht. Und nicht, weil wir auf ihre Hilfe angewiesen sind.

5. Eine eigene, kleine Familie
Mit der Verbundenheit ist das so eine Sache: Wir alle wünschen uns, unseren Kindern ein Leben lang nah zu sein. Doch eine zu enge Verbindung zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern kann auch zu Problemen führen: Wenn junge Eltern das Gefühl haben, sich von ihrer eigenen Herkunftsfamilie nie wirklich lösen zu können, überschattet das oft das eigene Familienglück. Nun ist eine gesunde Ablösung vom Elternhaus keine reine Frage von Kilometern, doch ich bin überzeugt davon, dass es beim Abnabeln hilft, als junger Mensch dem Heimatort den Rücken zu kehren und irgendwo anders ganz neu anzufangen. Kommt dann das erste Kind, beginnt das Abenteuer Abgrenzen noch einmal auf einer ganz neuen Ebene: Im Strudel der Emotionen kommt es sehr oft vor, dass frischgebackene Großeltern die Grenzen junger Eltern empfindlich überschreiten – ohne böse Absicht und aus lauter Liebe natürlich, was es umso schwieriger macht, das eigene Bedürfnis nach mehr Distanz und weniger Einmischung zu vertreten. Dass der Grat zwischen liebevoller Fürsorge und Übergriffigkeit oft sehr schmal ist, beobachte ich in meinem Umgeld immer wieder: Wenn die Oma unangekündigt sonntagmorgens um neun auf der Matte steht – ist das dann schön spontan, oder absolut grenzüberschreitend? Wenn die Großeltern einen Enkelnachmittag pro Woche einfordern – muss man dann dankbar sein oder darf man auch nein sagen? Und da spreche ich noch gar nicht von den Familien, bei denen die Großeltern im selben Haus leben …
Meine Erfahrung ist jedenfalls, dass viele junge Eltern mit dem Nähe-Distanz-Thema in der Beziehung zu ihren eigenen Eltern und Schwiegereltern heftig zu kämpfen haben, und dass eine große räumliche Nähe dieses Ausloten der persönlichen Grenzen nicht leichter macht. Einige hundert Kilometer Abstand sorgen hingegen ganz automatisch dafür, dass viele typischerweise von jungen Eltern als grenzwertig empfundene Situationen gar nicht erst auftreten können.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

6. Ferienkinder sein ist das Größte!
Als ich ein Kind war, hatte ich einen kleinen gelben Koffer, groß genug für meinen Schlafanzug, meine Zahnbürste und meinen Kuscheltiger. Mit diesem kleinen Koffer durfte ich mehrmals im Jahr verreisen: mal zu Oma und Opa, mal zu Großvater und Großvater, gemeinsam mit meinem Bruder. Wie habe ich das geliebt! Bei den einen Großeltern hatten wir ein Spielhäuschen, in dem wir Pfannkuchen essen durften wie Lotta in den Bullerbü-Büchern. Wir machten zusammen Ausflüge in den Schwarzwald und in den Europapark, zum Freiburger Münster und ins Elsass, und übernachteten in Mamas altem Kinderzimmer. Bei den anderen Großeltern schliefen wir in der Besucherritze, ließen Drachen steigen im Feld, bemalten Eierbecher mit Porzellanfarbe, gingen mit Großmutter zum Töpfern und mit Großvater zum Milchholen auf dem Bauernhof, besuchten die Affenbabys in der Wilhelma und den Riesen Goliath im Blühenden Barock. Es war, als hätten wir neben unserem eigentlichen Zuhause noch zwei weitere, die aufregend und spannend und anders waren und trotzdem voller vertrauter Geborgenheit. Unsere Kinder erleben das heute genauso: Ihre einen Großeltern leben am Meer, die anderen in den Bergen, und  bei beiden sind sie regelmäßig als Ferienkinder zu Gast. Sie haben zwei Zuhause fern von Zuhause, mit anderen Gärten, anderen Ritualen und anderen Abenteuern, die es gemeinsam zu erleben gilt, und wenn sie nach den Sommerferien in der Schule nach ihren schönsten Erlebnissen gefragt werden, sind es genau diese: An den Gardasee fahren mit Großmama und Großpapa. Segeln mit Omi und Opi. Die gemeinsame Radtour, der Ausflug in den Wildpark, Waffeln mit Kirschen essen auf der sonnenbeschienenen Terasse. Klar ist es dafür egal, ob die Großeltern 15 Kilometer entfernt wohnen oder 500. Aber ich habe schon das Gefühl: Familie in ganz unterschiedlichen Ecken Deutschlands und Europas zu haben und regelmäßig zu besuchen, eröffnet Kindern ganz andere Welten, als wenn alle mehr oder weniger an einem Fleck leben.

Heißt das, dass ich es blöd finde, wenn Eltern, Kinder und Enkelkinder nah beieinander leben? Dass ich gar davon abraten würde, Großeltern in der Nähe zu haben? Nicht im Geringsten: Ich kenne viele Familien, für die das nahe Zusammenleben der Generationen wunderbar klappt und für alle Seiten eine große Bereicherung darstellt. Mir ist es nur wichtig, zu zeigen: Anders geht es auch, und das nicht weniger gut. Großeltern in der Nähe zu haben kann unzweifelhaft viele Vorteile haben. Aber Großeltern zu haben, die nicht in der Nähe leben, hat auch manchmal Vorteile – nur eben andere.