… nur auf andere Weise als ihr denkt!
Das hier ist eine Premiere: Heute veröffentliche ich hier nämlich einen Text, den ich nicht selbst geschrieben, aber selbst aus dem Englischen übersetzt habe. Weil ich ihn so gut und so wichtig finde, und weil ich mir wünsche, dass er auch im deutschsprachigen Raum Verbreitung findet. Der Artikel stammt von der kanadischen Psychologin und Bloggerin Tracy Cassels, die an der University of British Columbia gerade an ihrer Doktorarbeit über kindliche Empathieentwicklung durch elterliche Feinfühligkeit schreibt – lustigerweise also genau an der Uni, an der ich vor neun Jahren selbst studierte. Tracy ist eine der bekanntesten Stimmen einer neuen, liebevollen Elternbewegung in Nordamerika, die sich „Evolutionary Parenting“ nennt – evolutionsbewusste Elternschaft, könnte man das etwas holprig übersetzen. Gemeint ist damit genau das, wofür auch ich selbst einstehe: Ein liebevoller Blick aufs Kind, bei dem die Eltern verstehen, wie sich die Menschheitsgeschichte im Verhalten ihres Kindes wiederspiegelt – um es dann zugewandt und bindungsorientiert ins Leben zu begleiten.
Um eine breite Plattform für diesen Weg zu schaffen, hat Tracy die Website „Evolutionary Parenting“ ins Leben gerufen, auf der gleichnamigen Facebook-Seite mittlerweile über 66 000 Fans versammelt. So bekannt und beliebt sind Tracy und ihre Texte!
Und weil Tracy – genau wie ich – nicht nur leidenschaftliche Mutter und Verfechterin eines kinderfreundlichen Familienlebens, sondern auch überzeugte Feministin ist, hat sie in ihrem Blog kürzlich den Text veröffentlicht, den ich Euch nun übersetzt habe. Er handelt gleich von zwei heißen Eisen, nämlich erstens von Schlaflernprogrammen à la Ferber und zweitens von den vorherrschenden Rollenmustern in unserer patriarchalen Gesellschaft und ihren Folgen.
Viel Freude beim Lesen wünscht Euch
Eure
Nora Imlau
Schlaflernprogramme SIND ein feministisches Thema (nur auf andere Weise, als ihr denkt)
von Tracy Cassels, Evolutionary Parenting
(Hier der Link zum Original-Artikel)
Zur Zeit macht ein Artikel die Runde, dessen Kernaussage die folgende ist: Schlaflernprogramme sind ein Thema, dem sich der Feminismus endlich stellen muss. Kurz zusammengefasst argumentiert die Autorin darin, dass echte Feministinnen für Schlaflernprogramme seien müssten, weil es schließlich auch Frauen seien, die sich nachts weitüberwiegend um die Kinder kümmerten und dementsprechend übermüdet seien. Gegen kontrollierten Schreienlassen zu sein, so seine These, sei deshalb zutiefst unfeministisch.
Ich selbst lehne diese Argumentationsweise aus ganzem Herzen ab, und werde meine drei Hauptgründe dafür hier gleich erklären. Doch vorher ich gehe sogar noch einen Schritt weiter und sage: Ja, auch aus meiner Sicht müssen sich echte Feministinnen und Feministen dem Thema Schlaflernprogramme endlich stellen – indem sie sich dafür stark machen, dass diese endlich von diesem Planeten verschwinden!
Der erste Grund: Die Sache mit der Wissenschaft
Die Autorin des besagten Artikels beginnt ihre Argumentation mit der (falschen) Behauptung, dass Schlaflernprogramme aus wissenschaftlicher Sicht weitgehend unumstritten wären. Dafür führt sie vier Belege an:
Als erstes erklärt sie die Middlemiss-Studie [1], die sich mit dem Einfluss von Schlaftrainings auf die Ausschüttung des Stresshormons Cortisol sowie auf die Synchronizität der Eltern-Kind-Beziehung befasst, für nutzlos und ohne jede Aussagekraft. Nun bin ich gewiss niemand, der glaubt, dass Studien stets die Antworten auf all unsere Fragen bereithalten, nichts läge mir ferner. Doch diese Studie war immer die erste ihrer Art, die sich immerhin einmal damit befasst hat, was während des kontrollierten Schreienlassens im Körper eines Babys passiert. Die Ergebnisse dieser Studie haben sicherlich nur beschränkte Aussagekraft, weil sie sich nur auf die hochindividuellen Reaktionen unterschiedlicher Babys während eines sehr kurzen Zeitraums beziehen, und das in einem Studiendesign, das so bislang noch nicht wiederholt wurde. Doch trotz allem verweisen die Ergebnisse dieser Studie auf ein ernsthaftes Gefährdungspotential sowohl für das Gehirns als auch für dieEltern-Kind-Bindung durch die extreme Cortisolausschüttung während Schlaflerntrainings – die selbst dann noch gegeben ist, wenn das Baby nicht (mehr) schreit. Diese Zusammenhänge müssen natürlich noch genauer erforscht werden.
Doch die Autorin des Artikels liegt falsch, wenn sie sagt, dass die Ergebnisse der Middlemiss-Studie die einzigen Forschungsergebnisse seien, auf die sich die Gegner von Schlaftrainings stützten. Ich kann all meinen Lesern nur empfehlen selbst noch einmal nachzulesen, wie echte Selbstregualtionsfähigkeit entsteht (im Gegensatz zur scheinbaren durch Schlaftrainings), wie unterschiedlich traumatische Erfahrungen empfunden werden, und wie Babyweinen, unsere Reaktion darauf und die Cortisol-Ausschüttung im kindlichen Gehirn zusammen hängen. Ich gebe zu, dass wir auf Basis wissenschaftlicher Studien bislang nur wenige klare Aussagen über Schlaflerntrainings treffen können – aber es gibt viele gute Gründe dafür, dass viele Wissenschaftler das kontrollierte Schreienlassen nicht als den Königsweg zu besseren Nächten anerkennen, als der sie uns angepriesen werden.
Zweitens befasst sich die Autorin intensiv mit einem mehrere Jahre alten Artikel aus dem Magazin “Slate”, der Argumente für Schlaflerntrainings sammelte. Nun, einmal abgesehen von der objektiven Schwierigkeit, dass es sich bei diesem Text um einen Zeitschriftenartikel und nicht um eine wissenschaftliche Studie handelt (wollen wir uns in feministischen und naturwissenschaftlichen Diskursen wirklich auf das „Slate“-Magazin stützen?), habe ich die frappierenden Fehler in der Darstellung von Schlaflernprogrammen in diesem speziellen Artikel bereits hier dargestellt. Es besteht also keine Notwendigkeit, mich an dieser Stelle noch einmal zu wiederholen.
Kommen wir also zum dritten Punkt: Die Autorin betont explizit, dass die Forschungsergebnisse von Anna Price und ihrem Team [2], die keine Langzeitfolgen bei schlaftrainierten Kindern feststellen konnten, ein handfester Beweis dafür seien, das Schlaftrainings Kindern definitiv nicht schadeten. Das Problem dabei? Nun, ausgerechnet diese Studie wurde in der Fachwelt so zerrissen, dass die medizinische Fachzeitschrift „Pediatrics“ (wo die Studienergebnisse veröffentlich wurden) in der Folgeausgabe gleich mehrere Zuschriften veröffentlichte (darunter auch meine), in denen Wissenschaftler die vielfältigen Schwächen dieser Studie herausstellten. Ich habe darüber hier ausführlicher geschrieben, und meine veröffentlichte Zuschrift an „Pedatrics“ kann hier nachgelesen werden. Kurz zusammengefasst hat dieses Forschungsteam eine Studie durchgeführt, deren Ergebnisse alles oder nichts bedeuten können. Denn letztlich bildeten sie einfach zwei Eltern-Gruppen, von denen eine die Anweisung bekam, mit ihrem Baby ein Schlaflerntraining durchzuführen, und die andere nicht. Doch die Hälfte der Eltern der Schlaftraining-Gruppe ließ ihre Babys trotzdem nicht schreien, und gleichzeitig wissen wir nicht, wie viele der Eltern, die gar keine Anweisung erhalten hatten, ihr Baby trotzdem auf eigene Faust schreien ließen. Am Ende jedenfalls wurden die Kinder beider Gruppen miteinander verglichen, ohne dabei zu berücksichtigen, ob sie nun tatsächlich ein Schlaftraining erlebt hatten oder nicht. Und wer jetzt noch nicht sieht, dass bei diesem Studienaufbau irgendetwas faul ist, der ist wohl für die Wissenschaft verloren (wie anscheinend all diejenigen, die auf Basis solcher ‚Forschungsergebnisse‘ die Unbedenklichkeit von Schlaflernprogrammen für erwiesen halten!)
Zu guter Letzt argumentiert die Autorin noch, dass unsere eigene Generation, die der heutigen Eltern, der beste Beweis dafür sei, dass Schlaftrainings nicht schadeten. Denn wenn Schreienlassen so schädlich wäre, dann müsste man bei uns doch schließlich die Auswirkungen sehen, oder? Ganz genau. Ich weiß ja nicht, mit welchen jungen Erwachsenen diese Autorin so ihre Freizeit verbringt. Ich zumindest kenne viele junge Erwachsene, die unter Ängsten und Schlafstörungen leiden, die verstörende Erinnerungen und traumatische Erfahrungen mit sich herumtragen, und die sich damit hilflos und alleine fühlen. Nicht alle jungen Erwachsenen empfinden so – aber viele. Berücksichtigen wir dann noch die steigende Anzahl von Kindern und Jugendlichen mit Depressionen und Angsterkrankungen sowie die sinkende Bindungsqualität in vielen Familien, sind das für mich Belege genug um zu sagen: Wir haben da einen ziemlich schlechten Weg eingeschlagen.
Der zweite Grund: Die Sache mit der Logik
Die Autorin des Artikels zeichnet im Grunde das folgende Bild: Frauen leiden unter Schlafmangel und Übermüdung, weil sie sich nachts alleine um die Kinder kümmern – deshalb müssen alle für Schlaflernprogramme sein, die auf der Seite dieser armen erschöpften Frauen sind. Denn wer gegen Schlaflernprogramme ist, will, dass diese Frauen länger leiden – und ist deshalb kein echter Feminist. Sieht irgendjemand das Problem?
Wenn Sie jetzt gedacht haben “Moment mal, gibt es nicht auch noch eine andere Lösung für dieses Problem? Könnte diesen Müttern nicht auch noch etwas anderes helfen als ein Schlaflernprogramm?“ – dann klopfen Sie sich jetzt bitte selbst einmal kräftig auf die Schultern: Sie haben damit hundertprozentig recht. Die Aussage der Autorin ist nämlich eigentlich total unlogisch. Gegen Schlaflernprogramme zu sein, heißt nicht, Frauen leiden sehen zu wollen, und erst recht nicht, gegen Hilfe für erschöpfte Eltern zu sein. In Wirklichkeit ist es doch so, dass gerade wir, die wir uns gegen das kontrollierte Schreienlassen stark machen, das nicht nur aus babyfreundlichen, sondern auch aus frauen- und familienfreundlichen Gründen tun.
Der erste Grund dafür ist, dass Schlaflernprogramme kein Problem beheben – sondern höchstens ein Symptom. Dass Babys anders schlafen als Erwachsene, ist biologisch sinnvoll und normal. Und selbst wenn Babys tatsächlich Probleme mit dem Schlafen haben, ist ihr Schlaf selbst dabei so gut wie nie das Problem – sondern eher irgendwelche Gedeihstörungen oder andere gesundheitliche Probleme, die vielleicht bislang noch nicht erkannt wurden. Doch wenn sich Eltern dann ganz auf die Schlafproblematik einschießen und ein Schlaflernprogramm anwenden, bei dem sie das Baby gezielt schreien lassen – dann ignorieren sie damit das eigentliche Problem, das hinter den Schlafstörungen steckt, und das sich nicht mit weniger, sondern mit mehr Aufmerksamkeit lösen ließe (viele Eltern sind aber leider auch einfach zum Heulen unsensibel für die natürlichen Schlafbedürfnisse ihres Kindes).
Und zweitens: Selbst wenn natürlich auch normales Schlafverhalten kleiner Kinder anstrengend für deren Eltern sein kann – das Mantra, dass in diesem Fall nur ein Schlafprogramm helfen könne, ignoriert den riesigen Strauß anderer Unterstützungsmöglichkeiten, durch welche die Nächte leichter werden können, ohne dass das Baby dabei die ganze Last alleine tragen muss. Es gibt viele gute Artikel und Bücher darüber, wie Familien auf sanfte Weise zu mehr Schlaf und ruhigeren Nächten finden können. Wir raten also keines Falls dazu, einfach die Zähne zusammen zu beißen und durchzuhalten, und nehmen die Bedürfnisse erschöpfter Eltern sehr ernst. Und trotzdem warnen wir entschieden und überzeugt davor, dem kleinsten und schutzbedürftigsten Familienmitglied die große Last eines Schlaflernprogramms auf seine die kleinen Schultern zu legen, von dem wir nicht wissen, wie es sich langfristig auf seine körperliche und seelische Gesundheit auswirken wird.
Kurz zusammengefasst heißt das: Schluss mit diesem Schwarz-Weiß-Denken! Wer nicht erkennen kann, dass es zwischen Schreienlassen und Nichtstun noch Millionen Grauschattierungen gibt, hat sich wohl noch nie damit befasst, was so ein Schlaflernprogramm für alle Beteiligten bedeutet.
Der dritte Grund: Die Autorin verwechselt anscheinend das Wort „Feministin“ mit dem Wort „selbstzentriertes Stück“
Zum Glück fanden sich unter besagtem Artikel viele Kommentare, in dem Frauen herausstellten, was wirklich der Kern dessen Argumentation ist: „Der Artikel sagt im Grunde genommen: Wenn Männer sich nachts nicht um ihre Kinder kümmern, ist es nur gerecht, wenn wir Frauen es auch nicht tun!“ Dieser Satz erinnert mich an eine weinerliche Person, die ihren Willen nicht durchsetzen kann und deshalb mit dem Fuß aufstampft und schreit: „Dann mach ich auch nicht mehr mit!“ Sollen die anderen ruhig heulen.
Kommt schon, Leute:
Werdet erwachsen!
Zunächst: Elternsein bedeutet, Verantwortung für einen anderen Menschen zu tragen, und zwar egal, was die anderen tun. Wir können nicht aufhören, unser Baby zu füttern, nur weil es unser Partner nicht tut. Ganz egal ob Mann oder Frau: Wenn unser Kind uns braucht, dann ist es unser Job, das zu tun, was jetzt zu tun ist. Wenn ihr sauer seid, weil die ganze Arbeit an euch alleine hängt, dann redet darüber und fordert Hilfe ein, anstatt aus Trotz genauso wenig zu machen, auf Kosten des Kindes. Wenn euer Partner sich weigert, eure gemeinsamen Rechnungen zu bezahlen, ignoriert ihr die dann auch einfach? Nein, und diese Entschuldigung würde auch niemand gelten lassen.
Zweitens: Feminismus bedeutet nicht “Frauen gegen Männer”. Wirklich nicht, und so zu tun, als ginge es in der Debatte um Schlaflernprogramme darum, dass Frauen endlich nachts genauso faul sein sollen dürfen wie Männer, ist außerordentlich respektlos – und zwar allen gegenüber. Als könnten Männer sich nicht genauso einbringen und gerade auch in der Nacht wundervoll unterstützende Väter sein – und als hätten Mütter nur eine Möglichkeit, sich nicht von ihren Macho-Männern ausnutzen zu lassen: sich genauso mies zu verhalten. Und das arme Kind zieht dann den Kürzeren in diesem lächerlichen Kindergarten-Streit.
Feminismus bedeutet, gegen das patriarchiale System anzugehen, dem es sowohl Frauen als auch Männern gegenüber an Respekt mangelt. Vor allem, wenn sie für ihre Kinder da sein wollen. (Ich werde darauf nachher noch weiter eingehen, wenn ich darüber schreibe, wieso Schlaftrainings wirklich ein feministisches Thema sind.)
Ist das Leben gerecht? Nicht besonders. Wenn eine Situation ungerecht ist, gibt uns das dann das Recht, die Situation noch ungerechter zu gestalten, auf Kosten des schwächsten Glieds in der Kette? Moralisch gesehen: Nein. Doch genau so argumentiert die Autorin des Artikels. Und tut dabei so, als sei es das erklärte Ziel des Feminismus, um jeden Preis das Beste für die Frauen heraus zu holen – ganz egal, wie es allen anderen dabei geht. Keine Feministin würde je so argumentieren, dass die Interessen der Frauen über allen anderen stünden – das wäre dann ein matriarchalisches System, kein Feminismus. Echte Feministen setzen sich nämlich für alle Menschen ein, vor allem aber für diejenigen, die besonderen Schutz nötig haben in einem System, das nicht viel Wertschätzung übrig hat für alles Feminine, egal wer es tut. Feministin sein heißt, gegen die Ungerechtigkeit unseres patriarchialen Systems zu kämpfen. Es bedeutet nicht, ein weinerliches Balg zu sein.
Meine Sicht der Dinge: Schlaflernprogramme auszurotten ist ein feministisches Anliegen
Warum ich das denke? Nun: Fangen wir mit der Prämisse an, dass es beim Feminismus vor allem darum geht, sich gegen ein patriarchal geprägtes System oder eine patriarchal geprägte Gesellschaft aufzulehnen. Wie sieht dieses System aus? Nun, dieses System hat nur Wertschätzung für die traditionell maskulin konnotierten Verhaltensweisen und Charakterzüge übrig. Gleichzeitig wird alles Feminine abgewertet. In einer patriarchalen Gesellschaft gilt also nicht automatisch alles, was ein Mann tut, als gut, und alles, was Frauen tun, als schlecht. Genau im Gegenteil: Ein Mann, der eine traditionell weiblich konnotierte Rolle einnimmt, erfährt in einer patriarchalen Gesellschaft starken Gegenwind. Eine Frau, die sich traditionell männlich verhält, erfährt hingegen Lob und Anerkennung. Es geht hier also nicht um das biologische Geschlecht, sondern um die Wahrnehmung von Geschlechterrollen.
(Dazu ist allerdings ergänzend zu bemerken, dass es tatsächlich auch Gesellschaften gibt, in denen die Wertschätzungen des Männlichen mit einer Wertschätzung aller Männer einhergeht, während gleichzeitig alles Weibliche, und auch konkret alle Frauen, abgewertet werden. In diesen Kulturen werden Frauen als generell minderwertige Wesen angesehen, die qua Geschlecht unfähig sind, die hoch geschätzten männlichen Eigenschaften zu verkörpern. Es versteht sich von selbst, dass Frauen in diesen Kulturen ein unendlich viel härteres Los gezogen haben, als wir in unserer Gesellschaft. Sie werden im täglichen Leben so stark stigmatisiert und von anderen kontrolliert, dass sie jedes Gefühl von Selbstbestimmtheit verlieren und ich werde ewig dankbar dafür sein, dass wir hierzulande so viel weiter sind. Unsere Gesellschaft hat nämlich beschlossen, dass Frauen in ihr durchaus gut klarkommen sollen – so lange sie sich in traditionell männliche Verhaltensweisen fügen. Dies ist tatsächlich ein Fortschritt, weil wir dadurch überhaupt die Chance haben, für Gleichberechtigung zu kämpfen. Wir leben aber immer noch in einer patriarchalen Gesellschaft.)
In unserer Gesellschaft ist die traditionell männliche Rolle die, hart zu arbeiten und die Wirtschaft voranzubringen. Und die traditionell weibliche Rolle, sich um unsere Kinder zu kümmern. Wenn wir uns nun ansehen, welche Wertschätzung unsere Gesellschaft dieser traditionell weiblichen Rolle entgegen bringt, wird schmerzhaft offensichlich, wie gering diese sein muss. Das erkennen wir zum einen an den niedrigen Gehältern in all den Berufen, in denen es um die Betreuung von Kindern geht (wie Erzieherin, Tragesmutter und Kinderkrankenschwester, um nur einige zu nennen) und zum anderen in gesetzlichen Regelungen, die es Eltern – egal welchen Geschlechts – nahezu unmöglich machen, für ihre Familie da zu sein (wie etwa der fehlenden Möglichkeit einer Elternzeit sowie Mindestlöhnen, die nicht ausreichen, um eine Familie zu ernähren). Schlaflernprogramme sind also nicht etwa eine feministische Errungenschaft, sondern viel mehr eine Methode, die wunderbar in dieses patriarchale System passt.
Schlaflernprogramme verlangen von uns, die Produktivität eines Arbeitstages eines Arbeitnehmers (also eine traditionell maskuline Rolle) wertzuschätzen, nicht die traditionell weibliche Aufgabe, Verantwortung für die nächste Generation zu übernehmen. Denn diese weibliche Rolle erfordert Kraftanstrengungen in der Nacht, und Schlaflernprogramme verlangen von uns letztlich, diese Arbeit als nutz- und wertlos anzusehen. Denn in dem Moment, in dem wir der liebevollen Betreuung unserer Kinder auch in der Nacht einen Wert – irgendeinen Wert – zuschreiben, können wir schlicht und einfach nicht mehr fordern, dass Eltern im Namen des Feminismus nachts nicht für ihre Kinder da sein sollen. Doch so lange dieses nächtliche Kümmerns als nutzloses Frauending gilt, spielen die Schlaflernprogramm-Verfechter dem patriarchalen System direkt in die Hände. Letztlich sagen wir als Gesellschaft damit, dass unsere eigene Rolle als Eltern (egal ob Mutter oder Vater) nutzlos ist, denn sich zum Kinder zu kümmern verdient weder Respekt noch Anerkennung. Damit will ich nicht sagen, dass Familien nicht natürlich auch manchmal ihr Leben den wirtschaftlichen Umständen anpassen müssen. Aber dafür einzutreten, dass müde Eltern ihr Baby doch einfach schreien lassen sollten, bedeutet letztlich, der Ansicht zu sein, dass liebevolles Reagieren und zärtliches Kümmern keinen Wert haben. Gar keinen. Null. Und nicht nur das: Für ein Baby in der Nacht da zu sein, ist aus dieser Sicht nicht nur vollkommen nutzlos, sondern auch noch potentiell gefährlich für das Kind. Das, liebe Leute, ist Patriarchat in Reinkultur. Ein gewisser gesellschaftlicher Wandel, der dieser Rolle (und den vielen anderen Rollen, die wir als Eltern inne haben) mehr Respekt zugesteht, ist zwar zu beobachten (wie ich weiter oben beschrieben habe) – aber in Bezug auf Schlaftrainings hat sich in unserer Gesellschaft noch nichts verändert.
Darüber hinaus verlangen Schlaflernprogramme von uns, die Bedürfnisse und den ganz realen Schmerz einer Personengruppe zu ignorieren, die schwächer ist als wir selbst: unsere Kinder. Und das ist ganz und gar nicht feministisch. Seit jeher kämpfen Feministinnen für die Rechte derjeniger, die in der Gesellschaft oft schlicht übersehen werden. Denn die Grundannahme des Feminismus ist und bleibt, dass alle Menschen gleich viel wert sind. Das heißt nicht, dass wir alle das Gleiche tun müssen – aber, dass unser Wert als Mensch ist nicht davon abhängt, ob wir Männer oder Frauen sind, ob wir uns traditionell männlich oder weiblich verhalten. Und: Er ist auch nicht davon abhängig, wie alt wir sind! Einem kleinen Kind die ganze Last einer anstrengenden Schlafsituation und deren Lösung allein aufzubürden, ist deshalb alles andere als feministisch. Denn letztlich verwenden wir dabei die selbe Macht und die selbe Gewalt, die Feministen bekämpfen, damit sich andere Menschen unseren Wünschen unterordnen. Wie sollte das feministisch sein?
Die feministische Antwort auf Schlafmangel unter jungen Eltern heißt deshalb nicht Schlaftraining, denn damit geben wir das Problem letztlich nur an andere weiter. Die Antwort ist, dafür zu kämpfen, dass sich unser Gesellschaftssystem verändert, das der traditionell weiblichen Arbeit des Kinderversorgens letztlich keinen Wert beimisst (und zwar egal, ob ein Mann oder ein Frau sie verrichtet). Kämpfen wir also für eine echte Elternzeit, für flexiblere Arbeitszeitregelungen, oder schlicht dafür, dass die liebevolle Betreuung unserer Kinder durch uns Eltern endlich als die unendlich wichtige und wertvolle Aufgabe anerkannt wird, die sie ist.
Entwerten wir sie selbst nicht noch mehr, indem wir so tun, als sei sie unwichtig und nutzlos. Denn das ist kein Feminismus. Das ist Anti-Feminismus.
[1] Middlemiss W, Granger DA, Goldberg WA, Nathans L. Asynchrony of mother-infant hypothalamic-pituitary-adrenal axis activity following extinction of infant crying responses induced during the transition to sleep. Early Human Development 2012; 88: 227-32.
[2] Price AMH, Wake M, Okoumunne OC, Hiscock H. Five-year follow-up of harms and benefits of behavioral infant sleep intervention: randomized trial. Pediatrics 2012; DOI: 10.1542/peds.2011-3467.
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