Da ist ein Baby in Mamas Bauch! Wie aufregend! Seit mein Mann und ich unseren Töchtern eröffnet haben, dass sie ein Geschwisterchen bekommen, stellen sie uns ständig neue Fragen: Wie ist das Baby eigentlich in die Mama reingekommen? Was macht es da drin jetzt? Woher bekommt es sein Essen, sein Trinken, und was zum Spielen? Und wie kommt es eigentlich wieder raus? Wir beantworten diese Fragen, wie wir all ihre Fragen beantworten: Geduldig, ehrlich und im Zweifelsfall mit Unterstützung der örtlichen Leihbücherei. Doch neulich brachte mich eine Frage wirklich ins Schleudern. Und das war nicht die nach dem Sex. Sondern die nach dem Geschlecht.
„Mama?“, fragte meine jüngere Tochter Annika, gerade sechs Jahre alt. „Hat sich das Baby im Bauch eigentlich schon überlegt, ob es ein Mädchen oder ein Junge sein will?“ Klar hätte ich nun sagen können: Als Junge oder als Mädchen geboren zu werden sucht man sich nicht aus. Das ist eine Frage der Biologie. Doch die Worte kamen mir nicht über die Lippen. Stattdessen dachte ich an all die Menschen, die sich heute überall auf der Welt dafür stark machen, dass unser Geschlecht mehr ist als reine Biologie: nämlich eine Frage unserer Identität.

Dass es Menschen gibt, die „im falschen Körper geboren werden“, hörte ich zum ersten Mal als junge Erwachsene. Und tat mir zugegebenermaßen erstmal schwer mit dem Gedanken: ein Mann mit tiefer Stimme, Bartwuchs und einem Penis sollte in Wirklichkeit eine Frau sein können? Eine Frau mit runden Hüften, hoher Stimme und weichen Brüsten ein Mann? Später lernte ich, dass genau die Geschlechtszuschreibungen unserer frühen Kindheit – „Jungen haben einen Penis, Mädchen haben eine Scheide“ – der Grund dafür sind, dass wir uns als Erwachsenen mit dem Konzept anderer Geschlechtsidentitäten so schwer tun. Biologie schlägt Gefühl – das ist die Logik, mit der wir groß geworden sind. Egal, ob sich ein Mensch als Mann oder als Frau fühlt: Wer einen Penis hat, ist ein Mann, und wer eine Scheide hat, ist eine Frau – so haben wir es verinnerlicht.

Hat das Baby sich eigentlich schon ausgesucht, ob es ein Junge oder ein Mädchen sein will?
Was für eine wunderbare Frage!

 

Wie viel Schaden dieses Weltbild anrichtet, zeigt ein Blick in die Statistik: Über die Hälfte aller Menschen mit Trans*-Identität unternehmen mindestens einen Selbstmordversuch – so viel Abwehr und Unverständnis schlägt ihnen in unserer modernen Gesellschaft heute noch entgegen.  Und trotzdem bringen wir unseren Kindern meist ohne darüber nachzudenken noch heute nach wie vor das selbe alte Muster bei: Du bist ein Mädchen, weil du eine Scheide hast. Und du bist ein Junge, weil du einen Penis hast. Später wirst du mal ein Mann sein. Und du eine Frau.

Diese Gedanken gehen mir also durch den Kopf, als meine kleine Tochter mich fragt, ob unser Baby sich denn sein Geschlecht schon ausgesucht hätte. Und ich merke: Ihr eigenes Weltbild ist in dieser Hinsicht noch ganz offen. Für sie wird man ein Mädchen oder Junge nicht, weil man es werden muss – sondern weil man es werden will. Was für eine Chance!

„Nein“, erkläre ich also meinem Kind. „Das Baby im Bauch hat sich noch nicht ausgesucht, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden will. Wenn es zur Welt kommt, werden wir dann sehen, ob es einen Penis oder eine Vulva hat, und ihm dann einen Jungen- oder einen Mädchennamen geben. Aber ob es dann wirklich auch ein Junge oder ein Mädchen ist, dass kann unser Baby nur selbst herausfinden – je nachdem, ob es sich als Junge oder als Mädchen fühlt.“

Annika nickt. Meine Ausführungen scheinen sie nicht besonders zu überraschen. „Dann habe ich ja Glück gehabt“, sagt sie nur. „Weil ich wie ein Mädchen aussehe und mich auch wie ein Mädchen fühle. Das passt ja gut zusammen.“  „Ja“, sage ich. „Das passt gut zusammen. Bei mir ist das auch so, und bei den meisten Menschen, die ich kenne.“ „Aber nicht bei allen“, schließt Annika. „Und dann kann man tauschen. Sonst wäre es ja ungerecht.“

Damit endet unsere kleine Unterhaltung. Und ich staune wieder einmal, wie einfach es für Kinder ist, so offen im Herzen und im Geist zu sein wie es viele Erwachsene gern wären.

Dieser Text entstand 2016 während meiner dritten Schwangerschaft und erschien zuerst im unerzogen Magazin.