In der Altstadt von Stockholm hüpft Marie, 3, an der Hand ihrer Mutter zum Kindergarten. Ein Tüllrock in lila-rosa-pink blitzt unter ihrer Winterjacke hervor. Das überrascht, denn Marie geht in die „Förskola Nikolaigården“, einen der beiden „geschlechtsneutralen“ Kindergärten in der Stadt. Der andere, Egalia genannt, wurde erst im vergangenen Sommer gegründet und machte seither international Schlagzeilen. Kommentatoren und Blogger in aller Welt ereiferten sich darüber, was für eine Schnapsidee es sei, Kindergartenkindern vorzugaukeln, es gäbe keine Unterschiede zwischen Jungs und Mädchen. Die Leiterin beider Kindergärten, Lotta Rajalin, wurde im Internet als „durchgeknallte Extremistin“ und „Taliban“ beschimpft, im Kindergarten trafen Drohbriefe ein, eines nachts zündete jemand ihr Auto an. Seither sind Pressebesuche im Kindergarten Egalia untersagt – zum Schutz der Kinder. Doch in dem Kindergarten, in dem alles begann, steht Lotta Rajalin nun in der Tür, lacht und sagt: „Willkommen in Nikolaigården!“

Erste Überraschung: Es ist alles so normal hier. Eltern bringen ihre Kinder zu den Gruppenräumen, hängen Jacken an die Garderoben, verteilen Abschiedsküsse. Die Troll- und die Elfengruppe haben heute gemeinsam Morgenkreis. Musikerzieherin Bella packt ihre Gitarre aus und stimmt das Begrüßungslied an. Dass Marie ihr Prinzessinnenkleid trägt, scheint hier niemanden zu stören.

Lotta Rajalin nimmt sich viel Zeit. Es ist ihr wichtig, mit einem großen Missverständnis auszuräumen: „Wir leugnen hier weder die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern, noch wollen wir Jungs zu Mädchen machen oder andersrum“, betont sie. „Es geht uns einzig und allein um das soziale Geschlecht. Bei uns sollen Kinder sich frei entwickeln können, ohne dabei durch Rollenklischees eingeschränkt zu werden.“

Rajalin greift zu einem Blatt Papier, auf das sie einen Kreis gezeichnet hat, der in der Mitte unterteilt ist. In die linke Hälfte des Kreises hat sie geschrieben, was üblicherweise zu einer Kindheit als Junge gehört: Weite, bewegungsfreundliche Klamotten in braun, grau, blau, schwarz und grün. Fußball spielen, rennen, raufen, klettern. Lego bauen. Ritter spielen. Auch Eigenschaftswörter stehen da: „Wild“ und „wütend“ und „schlau“ zum Beispiel.
Auf der Mädchenseite stehen die Farben rosa, lila, pink und weiß. Klamotten in Pastelltönen, die leichter schmutzig werden und so geschnitten sind, dass man in ihnen nicht so gut klettern kann. Mit Puppen spielen. „Lieb“ sein und „schüchtern“, „einfühlsam“ oder „zickig“.

„Ich bin überzeugt, dass jedes Kind den ganzen Kreis braucht“, sagt Rajalin. „Alle Farben, alle Spiele, alle Gefühle.“ An Diskussionen darüber, ob es nicht doch auch eine Frage der Genetik ist, dass Jungs eher mit Autos und Mädchen eher mit Puppen spielen, hat Rajalin kein Interesse. „Ich bin keine Biologin, ich bin Pädagogin“, sagt sie. „Und als solche weiß ich, dass Kinder den tiefen Wunsch in sich tragen, so zu sein, wie es die Erwachsenen von ihnen erwarten.“ Und diese Erwartungen, so Rajalin, stecken tief in uns: Wer selbst mit festgelegten Geschlechterrollen aufgewachsen ist, schüttelt die im Umgang mit Kindern nicht einfach ab. Rajalin selbst gibt offen zu, dass auch sie Jungen und Mädchen früher unterschiedlich behandelt hat. Sie weiß das, weil sie vor über zwanzig Jahren sich und ihre Kolleginnen und Kollegen bei ihrer Arbeit in Nikolaigården gefilmt hat, um genau das herauszufinden: Verhalten wir uns wirklich so fair, wie wir glauben? Die Videobänder anzusehen, erinnert sie sich, sei schrecklich gewesen: „Wir sahen uns die Mädchen liebevoll in die Arme schließen, und den Jungen aufmunternd auf die Schulter klopfen: Geh spielen, kleiner Mann!“ Eine genaue Auswertung der Aufnahmen zeigt auch, dass die Erzieherinnen und Erzieher drei Mal mehr mit den Mädchen sprechen, den Jungs hingegen einen deutlich größeren Bewegungsradius einräumen.

Das Team in Nikolaigården beschließt: Da müssen wir gegensteuern. So fängt sie an, die Entstehung des ersten geschlechtergerechten Kindergartens Schwedens. Als erstes ändern die Erzieherinnen und Erzieher ihre Sprache: „Wir vermeiden die Worte „Mädchen“ und „Junge““, erklärt Lotta Rajalin. „Und sprechen die Kinder immer mit ihren Vornamen an. Sie sind schließlich Individuen, und nicht nur Vertreter ihres Geschlechts.“ Denn Rajalin ist überzeugt: Wie wir sprechen, verändert die Art und Weise, wie wir denken. Deshalb gibt es in Nikolaigården auch keine „Legomännchen“, sondern „Legofiguren“. Und es gibt das aus dem Finnischen entlehnte Wörtchen „hen“. Ein Personalpronomen wie „er“ oder „sie“, aber eben ein geschlechtsneutrales: Es kann sowohl einen Mann als auch eine Frau meinen. So kündigte Rajalin den Kindergartenkindern an, dass heute jemand von einer deutschen Zeitschrift zu Besuch käme. „Hen“ werde über ihren Kindergarten einen Artikel schreiben. „Die Kinder können sich dann den Beruf vorstellen, ohne ihn mit einem bestimmten Geschlecht zu verknüpfen“, erklärt Rajalin. „Das erweitert ihren Horizont.“
Und wenn ein Mädchen sich selbst als Mädchen bezeichnet? Und am liebsten im Prinzessinnen-Look in den Kindergarten kommt, so wie Marie? „Dann darf es das natürlich“, entgegnet Rajalin. „Unsere Veränderungen betreffen ausschließlich uns Erwachsene: Wie wir mit den Kindern sprechen, was wir von ihnen erwarten. Alles, was von den Kindern selbst ausgeht, ist richtig.“

Was in Nikolaigården sofort auffällt: Jede dritte Erzieherin ist hier ein Erzieher. Das gehört doch sicher auch zum besonderen Konzept des Kindergartens, oder? Rajalin schüttelt den Kopf: „Entscheidend ist nicht das Geschlecht der Erzieher, sondern ihr Bewusstsein. Männer im Kindergarten können die traditionelle Rollenverteilung auch verstärken.“ Und überhaupt gehe es ihr ja nicht nur um Geschlechtergerechtigkeit. Nikolaigården solle vielmehr ein Ort sein, der die Vielfalt der Lebensentwürfe feiert – und die Freiheit, sich für jeden von ihnen entscheiden zu können. Dass sich diese Vielfalt auch in ihrem Team abbilde, zeige, dass das Konzept funktioniert: „Bei uns fühlen sich offensichtlich Menschen unterschiedlichen Geschlechts, unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Religion und unterschiedlicher sexueller Orientierung wohl“, sagt Rajalin selbstbewusst. „Und natürlich überträgt sich diese Atmosphäre der Offenheit und Toleranz auch auf die Kinder.“


Ein Rundgang durch die verschiedenen Gruppenräume zeigt: Oft genügt es, nur ein winziges Detail zu verändern, um ein ganzes Rollenklischee ins Wanken zu bringen. So steht in Nikolaigården die Kiste mit den Holzbausteinen direkt neben dem Puppenherd, so dass die Kinder erst gar nicht auf die Idee kommen, gedanklich eine Trennung zwischen Puppenecke und Bauecke zu ziehen. Das scheint zu funktionieren. In der Trollgruppe steht zumindest gerade der kleine Ole am Herd und brät hingebungsvoll einen Holzklotz.

„Die Kinder dürfen bei uns frei wählen, womit sie spielen wollen“, betont Lotta Rajalin. „Nur wenn ein Kind von selbst nicht ins Spiel findet, haben wir vereinbart, ihm erst mal etwas geschlechts-untypisches vorzuschlagen.“ Auf diese Weise hat schon so manches Mädchen hier Fußball spielen gelernt, mancher kleine Junge seine Leidenschaft fürs Ballett entdeckt. „Und wenn es ihnen nicht gefällt, ist es ja auch in Ordnung“, meint Rajalin. „Aber sie haben es zumindest mal ausprobiert und wissen: Das wäre auch eine Möglichkeit.“

Bevor es Zeit für den Mittagsschlaf ist, wird in der Trollgruppe vorgelesen. Auch die Kinderbücher im Regal sind streng auf die darin vermittelten Rollenbilder überprüft: Cinderella findet man hier nicht. Dafür aber beispielsweise die Geschichte der beiden schwulen Giraffen Jösta und Johan, die traurig sind, dass sie kein Baby bekommen können – bis sie schließlich ein verlassenes Krokodil-Ei adoptieren. Marie will lieber „Prinzessin auf Urlaub“ hören – die Geschichte einer Königstochter, die keine Lust mehr auf Kleidchen und Krönchen hat, und lieber Abenteuer erleben will. „Siehst du“, sagt Kaj, der Erzieher, zum Schluss. „Sie kann sein, was sie will.“ Marie zupft nachdenklich an ihrem pinken Kleid. „Und wenn sie heute einfach Prinzessin sein will?“ Kaj streichelt ihr liebevoll über den Kopf: „Dann sollte sie genau das sein.“

 Diese Reportage erschien erstmals 2011 in der Zeitschrift ELTERN.