Was für eine Mutter möchte ich mal sein? Als ich mir diese Frage stellte, lebte ich gerade in Kanada und war selbst noch nicht einmal schwanger. Trotzdem beobachtete ich im dortigen Fernsehprogramm, in den Elternzeitschriften, die bei meinem Arzt im Wartezimmer auslagen sowie in Parks und auf Spielplätzen Mütter dort, dass es – ganz grob unterteilt – anscheinend zwei Arten von Müttern gab: Die Attachment Parenting-Moms. Und die Ferber-Moms.

Die einen setzten auf einen sehr kuscheligen und innigen Umgang mit ihren Babys sowohl am Tag als auch in der Nacht. Die anderen schienen mehr oder weniger ab Geburt vor allem darauf bedacht, ihr Baby nicht zu verwöhnen und es so vom Selbstständigwerden abzuhalten. Die AP-Moms trugen ihre Babys in Tragetüchern und Slings, stillten sie mehr oder weniger überall und erzählten von den riesigen Familienbettlandschaften in ihren heimischen Schlafzimmern („Sex haben mein Mann und ich seit Jahren nur in der Küche“). Ferber-Moms hingegen begrüßten mich zu meinen Babysitter-Jobs bereits mit dem Hinweis, der kleine Joe müsse um Punkt acht Uhr alleine in seinem Bett einschlafen und dürfe auch bei wiederholtem Schreien und Weinen in keinem Fall hochgenommen werden.

Vermutlich gab es auch noch jede Menge Mütter, die sich irgendwo zwischen diesen Polen bewegten. Doch mein Eindruck damals, mit 22 Jahren, als junge Austauschstudentin war: Wer Mutter wird, muss sich für ein Weltbild entscheiden. Entweder man sieht das eigene Kind als extrem bindungsbedürftige kleine Persönlichkeit, deren Bedürfnisse nach Nähe, Nahrung und Schlaf es so gut es geht zu erfüllen gilt. Oder man versteht das eigene Baby als potentiellen kleinen Tyrannen, der gleich lernen muss, dass es mit Schreien und Weinen nichts erreicht. Das erste Weltbild fand ich deutlich sympathischer.

Wer ein Kind bekommt, muss sich für ein Weltbild entscheiden: Sehe ich mein Baby als kompetentes kleines Wesen an, das mit mir grundsätzlich kooperieren will? Oder als potentiellen kleinen Haustyrannen, den es von Anfang an in seine Schranken zu verweisen gilt?

 

Und so fiel, etwa anderthalb Jahre, bevor ich tatsächlich mein erstes Baby bekam, die Entscheidung: Ich werde eine „Attachment Parenting“-Mom!

In der Schwangerschaft mit meiner ersten Tochter besorgte ich mir dann hochmotiviert die entsprechende Primärlitaratur, indem ich mir übers Internet William und Martha Sears‘ „Attachment Parenting Book“ bestellte, die Bibel der Bedürfnisorientierten. Was ich dort las, machte Sinn und Mut. Attachment Parenting, schrieben die Sears, sei letztlich nichts anderes als die Überzeugug, dass Babys uns von Geburt an ihre Bedürfnisse mitteilen – und dass es unser Job als Eltern ist, diese Bedürfnisse zu „lesen“ und bestmöglich zu erfüllen, und dabei immer gut auch auf uns selbst und unsere eigenen Bedürfnisse zu achten. Das fand ich einleuchtend. Eine Balance der Bedürfnisse – was für ein schönes Ziel für ein gelingendes Familienleben!

Als besonders ermutigend empfand ich die Pyramide der sieben „Baby B“, mit der die Sears in ihrem Buch greifbar machen, wie „Attachment Parenting“ in der Praxis aussehen kann.

So plädieren die Sears fürs

Birth Bonding, also das Kuscheln Haut an Haut direkt nach der Geburt

Breastfeeding, also Stillen

Babywearing, also Tragen

Bedsharing, also das Familienbett

weil all diese Dinge viel körperliche Nähe bedeuten und die Bindung stärken.  Das ist das Fundament ihrer Bindungs-Pyramide. Dann raten sie zum

Belief in Baby’s Cries, also dazu, jedes Baby-Weinen ernst zu nehmen

und mahnen

Beware of Baby Trainers, was auf auf deutsch heißt: Hütet Euch vor Schlaflernprogrammen à la „Jedes Kind kann schlafen lernen“

Der Schlussstein der Bindungspyramide heißt schließlich schlicht

Balance and Boundaries, also: Achtet auf eine gesunde Balance zwischen Kindern- und Elternbedürfnissen und wahrt Eure eigenen Grenzen!

Für mich waren diese sieben Baby B eine kompakte, alltagspraktische Anleitung, eine gute Mutter zu werden. Denn sie halfen mir, mich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Dass wir für unsere Tochter  in unserer Zwei-Zimmer-Wohnung kein eigenes Reich schenken konnten? Kein Geld für ein Auto hatten und keins für teure PeKiP-Kurse? Geschenkt! Denn sie bekam trotzdem alles, was sie brauchte. Nachts schlief sie in unserem Bett, tagsüber war sie meist im Tragetuch. Und nie, wirklich niemals ließen wir sie schreien. Sie war ein geborgenes Baby. Und das war alles, was zählte.
Ich kann mich noch genau an dieses Gefühl erinnern: Die Geburt gerade zwei Wochen her, das Stillen noch ein schmerzhafter Kampf, die ersten Binde-Versuche mit dem Tragetuch noch ein ziemliches Gewurstel. Doch dann hatte ich es geschafft, und mein Baby schlief selig an meine Brust gelehnt, und ich guckte in den Spiegel und dachte: Gut gemacht! Alle Baby B umgesetzt, alle Nähe gegeben. Ich bin eine gute Mutter – und es ist gar nicht so schwer, wie ich dachte, eine gute Mutter zu sein!

Das ist für mich das eigentliche Geheimnis der sieben Baby B. Sie brechen eine große und komplexe Philosophie herunter auf eine zentrale Botschaft aus sieben klar umrissenen Bausteinen, die (fast) jede Familie ganz einfach umsetzen kann. (Zudem betonen die Sears, dass nicht jeder Baustein gleich unverzichtbar ist – so ist Schreienlassen etwa ein No-Go, nicht stillende Mütter hingegen durchaus Attachment Parenting leben)

Und genau diese Einfachheit, diese Niedrigschwelligkeit vermisse ich heute oft, wenn es um Attachment Parenting geht. Denn seien wir ehrlich: Die wenigsten jungen Mütter und Väter informieren sich heute über Attachment Parenting im Standardwerk des Ehepaar Sears. Nein: Sie hören davon im Internet, bei Facebook, Twitter und Instagram, in Foren, Facebookgruppen und anderen Communitys. Dabei kann sehr schnell der Eindruck entstehen, dass Attachment Parenting nicht etwa ein schöner und einfacher Weg ist, die Babyzeit bindungsorientierter zu gestalten. Sondern ein kompliziertes Regelwerk, das sich auf nahezu alle Lebensreiche erstreckt und eine bestimmte Lebensweise zum Goldstandard erhebt. Mit den Basics Stillen, Tragen, Familienbett und dem konsequenten Nicht-Schreienlassen ist es da noch lange nicht getan.  Nein: Auch Hausgeburt und Impfkritik, Stoffwindeln oder Windelfrei, Reboarder und Baby-led Weaning scheinen für viele fast schon zwingend zum „Attachment Parenting“ dazu zu gehören. In letzter Zeit ist es zudem noch in Mode gekommen, die „Attachment Parenting“-Idee mit der„unerzogen“-Philosophie zu verknüpfen – frei nach dem Motto: Wer wirklich eine gute Bindung haben will, der sollte nicht nur feinfühlig auf alle Signale in der Babyzeit reagieren, sondern auch in den Jahren danach gleich ganz auf Erziehung verzichten.

Soll Attachment Parenting eine elitäre Nische bleiben, in der sich Eltern gegenseitig auf die Schulter klopfen weil sie alles besser machen als die breite Masse?
Oder eine Philosophie, die allen Eltern Mut macht, Tag und Nacht für ihre Babys da zu sein?

Aus meiner Sicht liegt in dieser ständigen Erweiterung des „Attachment Parenting“-Begriffs eine echte Gefahr. Denn je mehr Kriterien wir noch zum „AP-Goldstandard“ erheben, desto größer ist die Gefahr, dass werdende und junge Eltern erschrocken zurückweichen: Als echte AP-Eltern müssen wir also sowohl auf Windeln als auch auf Erziehung verzichten, dürfen keinen Brei füttern und keine Kita-Betreuung buchen und müssen außerdem noch in einen schweineteuren Kindersitz investieren? Dann lassen wir lieber die Finger davon und machen einfach weiter wie bisher!

Um den liebevollen Umgang mit unseren Kindern wirklich in die Mitte der Gesellschaft zu holen, müssen wir deshalb aus meiner Sicht den umgekehrten Weg gehen: Back to the basics!

Meine Kern-Botschaft lautet deshalb:

Attachment Parenting ist total einfach!

Alles, was Eltern dafür tun müssen, ist, ihrem Baby beim Stillen, Tragen und in der Nacht viel Nähe zu geben und es nicht schreien zu lassen – alles andere findet sich dann schon.

Denn für einen liebevolles Familienleben ist es total schnuppe ob wir Pampers oder Stoffwindeln verwenden, ob wir Brei kochen oder Gläschen kaufen oder auf Fingerfood setzen, ob unsere Kinder vorwärts oder rückwärtsgerichtet Auto fahren. Wir können berufstätig sein oder bewusst zu Hause bleiben, unsere Kinder im Geburtshaus oder in der Klinik zur Welt bringen, Veganer sein oder Fleisch essen.

Entscheidend ist einzig und allein, wie wir dabei miteinander umgehen.

 

 

Ich bin überzeugt: Wenn wir diese Botschaft in die Welt tragen, wir „Attachment Parenting“ bald der neue Standard im Umgang mit Babys sein. Es wird einfach normal werden, Babys Tag und Nacht bei sich zu tragen. Weil es so einfach, so schön und so logisch ist – und weil kein komplizierter ideologischer Überbau daran hängt, der Eltern eher entmutigt als ermuntert. Lasst uns deshalb alle dafür sorgen, dass wir „Attachment Parenting“-Familien in der Öffentlichkeit  nicht als exklusiver Club wahrgenommen werden, dessen Mitglieder vor allem stolz darauf sind alles anders zu machen die breite Masse.

Lasst uns stattdessen lieber betonen, dass wir ein Teil der breiten Masse sind! Dass wir „Attachment Parenting“- Eltern ganz unterschiedliche Menschen sind, die ganz unterschiedlich leben, arbeiten, essen, spielen, erziehen oder auch nicht erziehen – aber eins gemeinsam haben: dass wir das Bedürfnis unserer Kinder nach Liebe und Nähe am Tag und in der Nacht sehen und ernst nehmen und erfüllen, so gut wir können.

Denn das bedeutet Attachment Parenting ursprünglich, und das bedeutet auch #APfürmich.

Und wenn dann mehr und mehr Menschen durch unser Vorleben Lust bekommen, selbst mit „Attachment Parenting“- Eltern zu sein und auf eigene Faust entdecken, was das Stillen, das Tragen, das Familienbett mit und und unseren Beziehungen macht – dann ist mein größter Wunsch in Erfüllung gegangen.