„Du bist die bescheuertste Mama der Welt!“
Meine Tochter und ich hatten heute Morgen Streit. Und kurz bevor sie los musste zur Schule, schleuderte sie mir diesen Satz entgegen. Laut, wütend, bei weit geöffneter Haustür, so dass es auch alle Nachbarn mithören konnten. Ich war so sauer. Und so verletzt. Was für eine Szene, schon am frühen Morgen!
Ich merkte regelrecht, wie der Ärger in mir hoch brodelte und mein Herz hart machte. Ich wollte zurück brüllen, zurück verletzen, Strafen verhängen. „Kein Fernsehen für heute!“, lag mir auf der Zunge, dieser willkürlich autoritäre Satz, wie gut er sich in diesem Moment angefühlt hätte.
Doch ich sprach ihn nicht aus.
Stattdessen atmete ich. Ein, Pause, Aus. Wie bei einer Geburt. Ein, Pause, Aus. Ein, Pause, Aus.
Währenddessen erinnerte ich mich bewusst zurück, an die allerersten Momente mit meiner Tochter. Meinem Baby, das ich beschützen wollte, immer. Das mir so nah war, von Anfang an. Und jetzt standen wir uns so wütend und unversöhnlich gegenüber, beide mittlerweile schweigend.
Diese Erinnerungsreise ist meine persönliche Exit-Strategie, wenn die Wut überhand zu nehmen droht. Dann sehe ich mein Kind an, und sehe es so lange an, bis ich wieder das winzige Neugeborene in ihm sehen kann. Perfekt. Unschuldig. Bedingungslos gut.
Wenn die Wut hochkocht, ist das meine persönliche Notfall-Strategie: Ich versuche in meinem Kind das neugeborene Baby zu sehen, das es einmal war.
Und dann komme ich irgendwann an den Ort, an dem ich mein Kind in den Arm nehmen kann. Und zwar von Herzen, allen voraus gegangenen Beschimpfungen zum Trotz.
Natürlich sprechen wir dann noch mal drüber, was vorgefallen ist, und ich zeige ehrlich meine Gefühle, auch die verletzten und verärgerten. Mein Kind lebt in keiner künstlichen Blase – wenn es austeilt, ist die natürliche Konsequenz, dann ein anderer Mensch davon getroffen sein kann. Damit müssen wir uns auseinander setzen, gemeinsam.
Doch ich bin die Erwachsene. Ich habe die Verantwortung für die Qualität der Beziehung zwischen meinem Kind und mir. Immer.
Ich darf verletzt sein, wütend, enttäuscht, verzweifelt. Es gibt keine falschen Gefühle, und mein Kind darf mich nicht nur in fröhlichen Momenten authentisch erleben. Doch authentisch zu sein heißt nicht, meinem ersten emotionalen Impuls zu folgen. Sondern in Einklang mit meinen persönlichen Werten zu reagieren. Das zu leben, was ich wirklich glaube. Auch wenn das in akuten Stresssituationen echt schwer fällt.
Einfach loszupoltern ist nicht authentisch. Es ist gewaltvoll. Authentisch bin ich, wenn ich im Einklang mit meinen eigenen Werten reagiere – auch wenn mir das verflixt schwer fällt.
Raus zu kommen aus der Schuldfrage, reinzugehen in die Beziehung, auch dann, wenn es weh tut – diese Mutter will ich sein. Dass ich das nicht immer schaffe, macht mich nicht zu einem schlechten Menschen, ist aber auch kein Grund dafür, es nicht jeden Tag aufs Neue zu probieren.
Die Zeit drängt. Gleich beginnt die Schule. Mein Gehirn läuft auf Hochtouren. Ich muss gleichzeitig mein eigenes aufgewühltes Nervenkostüm und das meiner Tochter im Blick haben. Mir selbst zuhören, mich gut um mich selbst kümmern, meine eigene Wut und Verletzung spüren und validieren und aushalten und betrauern. Und dabei auch noch die Brücke zu meinem Kind schlagen, das gerade genauso Bemutterung braucht.
Ich halte ihre Hand. Schaue ihr in die Augen. Wenn ich jetzt spreche, kommt garantiert das Falsche heraus. Also gebe ich ihr einen Kuss, und sie geht los, gelöst auf einmal, dankbar lächelnd. Nach ein paar Metern dreht sie sich nochmal um und winkt.
Als ich zurück ins Haus komme, fällt mein Blick auf das Lebkuchenherz, das sie mir am Wochenende vom Weihnachtsmarkt mitgebracht hat, vom Taschengeld bezahlt, mit glühenden Wangen überreicht, voller Liebe und Dankbarkeit: „Mama ist die Beste!“
Beides zu sein – die gute Mama und die blöde Mama, die geliebte und die bescheuerte – und dabei meine Kinder immer bedingungslos zu lieben und Verletzungen nicht mit Gegenverletzungen zu beantworten: Das ist eine Art Lebensaufgabe für mich. Irre anstrengend, aber für mich alternativlos, wenn ich auch mit meinen größer werdenden Kindern in einer vertrauensvollen, bindungsreichen Beziehung bleiben will.
Es ist acht Uhr morgens, und ich fühle mich, als wäre ich heute bereits einen Marathon gelaufen. Erschöpft bis ins Mark, aber gleichzeitig stolz und zufrieden. Ich fahre den Rechner hoch, und beginne zu arbeiten. Das Lebkuchenherz liegt dabei neben mir auf meinem Schreibtisch.
3 Comments on "Der Morgen, an dem ich die bescheuertste Mama der Welt war"
Cornelia
25/06/2019Vielen Dank für diese Zeilen. Deine Worte halfen mir heute nach einem stürmischen Morgen mit meiner Tochter. Und deine Gedanken dazu, was authentisch sein bedeutet, gaben mir neue wertvolle Impulse.
Also, lieben Dank.
Sabrina Oertel
27/06/2019Danke für diesen Artikel, von ganzem Herzen!
Anni
28/01/2020Das hilft auch bei der Kitaeingewöhnung😁
Danke, das bräuchte ich.