Vier Jahre schulfrei! Was für viele Kinder wie ein Traum klingt, hat der elfjährigen Leander* erlebt. Seine Mutter Selina* erzählt, wie es dazu kam – und was sie in dieser Zeit von ihrem Kind gelernt hat.
„Der Tag, an dem wir uns entschieden, Leander aus der Schule zu nehmen, war kein guter. Leander weinte schon beim Aufstehen, und als wir zum Auto gehen wollten, klammerte er sich an unseren Beinen fest. Wir brachten ihn trotzdem hin: Ein Kind muss doch zur Schule gehen! Davon waren wir wirklich überzeugt – bis Leander uns Videos zeigte. Kleine Filme, die er während des Schultags heimlich mit seiner Digitalkamera aufgenommen hatte. Sie zeigten Erstklässler, die anderen Erstklässlern in den Bauch kicken, und keiner tut was. Und eine Lehrerin, die im Unterricht Sechsjährige mit einem Faustschlag auf den Tisch aus ihren Tagträumen weckt. Mein Mann und ich hatten das Gefühl: Hier geht unser Kind kaputt! Und ließen Leander am nächsten Tag zu Hause. Fieberhaft suchten wir nach einer anderen Grundschule für ihn – doch wir leben auf dem Land, da gibt es keine große Auswahl.
Von Freunden aus den USA wussten wir, dass sie ihre Kinder gar nicht in die Schule schicken, sondern zuhause lernen lassen, ganz ohne Druck und Zwang. „Unschooling“ nennen sie das. Und je länger wir Leander bei uns zuhause hatten, desto mehr zeigte sich: Das ist genau sein Ding! Plötzlich begann er tausend Fragen zu stellen: „Mama, wie schreibt man eigentlich “Mama“?“ – „Papa, wie zählt man bis hundert?“ – „Woher kommt die Spucke im Mund?“ – „Wie baut man ein Vogelhaus?“
Sein Kind nicht zur Schule schicken, ist in Deutschland verboten. Doch mein Mann und ich war uns sicher: Das ist es, was Leander braucht. Und so schlossen wir mit dem Leiter einer freien Schule einen Deal: Wir melden Leander dort an und bezahlen klaglos das Schulgeld. Und er stellt keine Fragem, wenn Leander dort nicht auftaucht.
Natürlich hatten wir Angst. Angst vor den Behörden, aber auch Angst um Leander: Würde er nun zum Analpabeten, zum Bildungsversager, zum Dauer-Hartz 4-Empfänger? Dazu kamen finanzielle Sorgen: Ich konnte ja nicht arbeiten gehen, wenn Leander den ganzen Tag zuhause war.
Wir sind gesetzestreue Bürger. Klar hatte wir Schwierigkeiten damit, uns der Schulpflicht zu entziehen. Doch unser Gewissen sagte uns auch: Das Wohlergehen unseres Kindes wiegt schwerer als bürokratische Vorschriften.
Doch Leander zeigte uns, dass wir auf dem richtigen Weg waren. Ohne Schule blühte er richtig auf und lernte unheimlich viel. Aber nicht nach Lehrplan, sondern geleitet von seinen eigenen Interessen. Wer sich selbst ein Baumhaus bauen will, kommt dabei nämlich ohne Dreisatz nicht weit. Und wer die Simpsons im Original gucken will, muss dafür ziemlich gut Englisch können.
„Mama, ich glaube, ich geh dann mal wieder in die Schule!“ –Leander war zehn, als er mir diesen Entschluss mitteilte. Für mich war das erstmal ein Schock: Wir waren doch jetzt überzeugte Freilerner und lehnten die Schule als Institution ab! Doch mein Sohn dachte gar nicht in diesen Kategorien. Er fand einfach, dass es jetzt an der Zeit war: Für Pausenbrote und Spickzettel, Referante und Gruppenarbeit, Freistunden und Klassenfahrten. Jetzt geht er in eine Gesamtschule im Nachbarort, die er sich selbst ausgesucht hat. Dass er in den vergangenen vier Jahren keine Schule besucht hat, ist dort noch niemandem aufgefallen.“
*Die Namen aller Familienmitglieder wurden zu ihrem Schutz geändert.
Diesen Erfahrungsbericht protokollierte ich ursprünglich 2014 für die Zeitschrift ELTERN family.
2 Comments on "Der Junge, der nicht zur Schule ging"
Flora
08/02/2018Vielen Dank für diesen Artikel! Ich bin selbst Lehrerin, allerdings in der Erwachsenenbildung, aber dafür sehe ich dann das Ergebnis vom klassischen Frontalunterricht. Unsere Bildungstradition aus dem 19.Jh. erzeugt Menschen, welche die Freude und Neugier am Lernen verloren haben, ganz zu schweigen von Kreativität, dem positiv ausgerichtetem Lösen von komplexen Problemen oder der so wichtigen sozial-kompetenten Kommunikation in der Gruppe. Es ist eine sehr harte Arbeit, das später nachholen zu wollen. Wenn ich sehe, mit welchen Menschentyp meine großen Stiefkinder auf dem Gymnasium konfrontiert werden, dann habe ich ein sehr schlechtes Gefühl dabei, wohin wir unsere kleine Tochter schicken sollen, wenn es um die Einschulung geht. Mit einem guten Rahmen (z.B. dass der unterrichtende Elternteil einen HSA hat) kann ich mir Homeschooling sehr gut vorstellen, denn in pädagogischer Hinsicht haben die Eltern meistens wesentlich mehr Kompetenz gegenüber ihren Kindern als Lehrer und in fachlicher Hinsicht dürfte der Stoff bis Klasse Zehn unproblematisch von einem engagierten Elternteil mit HSA erarbeitbar sein. Ein wirklicher Mehrwert des Schulunterrichts im klassischen Stil gegenüber Homeschooling ist mir bisher jedenfalls noch nicht begegnet.
Laura
22/11/2019Liebe Flora
In gewissen Punkten bin ich mit dir einig: Viele meiner Studierenden stellen keine inhaltlichen Fragen, sondern wollen wissen, was an der Prüfung kommt – definitiv eine Folge schlecht konzipierten Unterrichts und nicht artgerechter Erziehung, aber nicht nur in der Schule: Intrinsische Motivation wird zerstört, weil Erwachsene ständig auf extrinsische Motivation setzen.
Ich muss dir aber in deinem Lob für Homeschooling und Schulunterrich-Bashing widersprechen. Bei uns in der Schweiz ist Homeschooling mancherorts erlaubt, und nebst vielen guten Beispielen gibt es immer wieder Sektenanhänger, die das ausnutzen. Das sind natürlich Einzelfälle, aber auf meinen zweiten Punkt trifft das glaube ich nicht zu. Ich habe in meiner Familie mehrere Lehrer_innen, Sonderpädagog_innen und Schulleiter_innen, die alle an Grundschulen tätig sind und alle im Rahmen ihrer Möglichkeiten daran arbeiten, den Unterricht und das Schulsystem kindergerechter zu machen. Die grösste Bremse dabei ist nicht das knappe Budget (Vieles ginge völlig kostenneutral), sondern Eltern, die Angst haben, aus ihrem Kind "werde mal nichts", wenn die Schule nicht genau so läuft wie zu ihrer eigenen Schulzeit. Deinem Satz, dass die Eltern meistens mehr pädagogische Kompetenz haben als pädagogische Fachleute, muss ich mich deutlich entgegenstellen, ich halte die Aussage für nicht zutreffend. Womit ich keinesfalls sagen will, es gäbe keine schlechten Lehrer_innen oder schlechte Schulen (die im Artikel, wo anscheinden Mobbing kommentarlos toleriert wird, und ich kenne auch persönlich welche), aber ich denke, dass in einer Gruppe von Personen, deren Ausbildung nebst Fachinhalten auch Lern- und Entwicklungspsychologie thematisiert (also Lehrer_innen) das durchschnittliche Niveau an pädagogischer Kompetenz gehoben ist, während in der Gesamtbevölkerung (Eltern) das sehr durchmischt ist und sehr auf den Einzelfall ankommt.