„Bedürfnisorientiert“ – als ich als junge Journalistin anfing, meinen Umgang mit meinem Kind in Texten und Artikeln so zu beschreiben, kannte den Begriff noch kaum jemand. Heute ist das Wort in aller Munde: Kinder bedürfnisorientiert ins Leben zu begleiten, sie also von Anfang an in ihren Bedürfnissen zu sehen und achten zu wollen, erscheint immer mehr Eltern als der richtige Weg, Familie zu leben. Darüber freue ich mich sehr, denn auch ich denke: Den Bedürfnisse aller Familienmitglieder mit Liebe und Respekt zu begegnen, ist der Schlüssel zu einem gesunden, bindungs- und beziehungsreichen Familienleben.

Allerdings ist mir in den vergangenen Monaten aufgefallen, dass der Begriff „Bedürfnis“ unter Eltern heute ziemlich inflationär verwendet wird – alles, was ein Kind mag, will oder kennt, wird schnell als sein ureigenstes Bedürfnis interpretiert.

„Klar würde ich gerne mal wieder abends mit Freundinnen weggehen, aber mein Kind braucht es einfach noch, dass nur ich es ins Bett bringe.“

„Mein Kind hat gerade ein ganz starkes Bedürfnis nach Fernsehen und Tablet.“

„Unser Kind braucht aber noch seine Windel.“

„Mein Kind hat auch mit zwei Jahren noch ein ganz starkes Bedürfnis danach, nachts alle halbe Stunde zu stillen.“

„Unser Kind hat nun mal das Bedürfnis, beim Autofahren nach vorne gucken zu können.“

Aber sind das alles wirklich Bedürfnisse? Um diese Frage beantworten zu können, müssen wir zunächst einmal verstehen, was Bedürfnisse überhaupt sind:

Bedürfnisse beschreiben, was ein Mensch körperlich und seelisch braucht, um gut und gerne leben zu können.

Die wichtigsten körperlichen Grundbedürfnisse sind:

– Luft zum Atmen
– Nahrung
– Schlaf
– Berührung
– körperliche Unversehrtheit und Schmerzfreiheit.
(Bei  kleinen Kindern kommt zu diesen Bedürfnissen noch das Saugbedürfnis hinzu.)

Die wichtigsten seelischen Grundbedürfnisse sind:

– Liebe und Fürsorge
– Anerkennung und Angenommensein
– Nähe und Bindung
– Autonomie und Selbstwirksamkeit
– Halt und Begrenzung
– emotionale Sicherheit und Geborgenheit

Bedürfnisse sind also verhältnismäßig abstrakte, weit gefasste Möglichkeiten, ein Gefühl des Mangels zu beheben. Wie ein solches Bedürfnis dann konkret erfüllt wird, ist eine Frage der Strategie.

Wer Hunger hat, hat ein Bedürfnis nach Nahrung.
Wer einen Apfel isst, nutzt eine Strategie zur Erfüllung dieses Bedürfnisses.

Diese Unterscheidung zwischen Bedürfnis und Strategie geht auf den Kommunikationspsychologen Marshall Rosenberg, den „Erfinder“ der Gewaltfreien Kommonukation zurück, ist unserem allgemeinen Sprachgebrauch jedoch kaum verbreitet. Wir sprechen von „Bedürfnissen“ sowohl, wenn wir Bedürfnisse als auch wenn wir Strategien im Umgang mit ihnen meinen.

Warum ist diese Unterscheidung so wichtig? Weil sie uns hilft, die tiefen, universalen Bedürfnisse hinter einem momentanen Verlangen zu entdecken – bei Kindern wie bei Erwachsenen. Denn unsere Bedürfnisse haben wir alle gemeinsam. Nur in unseren erlernten und lieb gewonnenen Strategien unterscheiden wir uns. Dabei liegt in beiden Begriffen keine Wertung: Eine Strategie ist nichts Schlechtes oder gar Manupulatives, sondern schlicht ein Weg, mit dem wir ein Bedürfnis erfüllen können oder wollen.

Kinder sind in der Frage der Strategiefindung dabei ausgesprochen kompetent. So gibt es etwa viele Kinder, die, wenn sie müde werden, am liebsten an Mamas Brust liegen und dort einschlafen wollen. Das ist ausgesprochen klug von ihnen, denn mit dieser Strategie erfüllen sie gleich mehrere ihrer Grundbedürfnisse: das nach Nahrung, das nach Nähe, das nach Bindung, das nach Geborgenheit. Nicht umsonst hat der britische Frauenarzt  Dr. Grantley Dick-Read geschrieben: „Ein Neugeborenes hat nur drei Bedürfnisse: in den Armen seiner Mutter zu sein, warme Milch zu trinken und sich sicher und geborgen zu fühlen. Stillen erfüllt sie alle drei.“

Stillen als der geniale Erfüller aller Bedürfnisse auf einmal – das unterschreibe ich als Stillberaterin und Mutter sofort. Und trotzdem ist Stillen im Rosenberg’schen Sinne kein Bedürfnis an sich. Warum? Weil Bedürfnisse universal sind, und sonst jedes nicht gestillte Babys permanent mit einem unerfüllten Bedürfnis leben müsste. Das ist aber nicht so, weil seine Bedürfnisse nach Nähe, Milch und Geborgenheit mittels anderer Strategien erfüllt werden. Darum geht es.

Für Eltern bedeutet das: Alles, was ihnen und ihrem Kind gut tut, ist gut. Und es liegt in der Natur von uns Menschen, die Bedürfnisse unserer Kleinsten nach Nähe und Geborgenheit, Liebe und Halt mittels Strategien zu erfüllen, die sich dafür besonders gut eignen. Das Stillen und das Tragen gehören da unbedingt dazu.

Gleichzeitig finde ich es wichtig, zu wissen: Hinter jeder Strategie steckt ein Bedürfnis. Aber anders als Bedürfnisse sind Strategien grundsätzlich verhandel- und veränderbar. Wenn Eltern also das Gefühl haben, ihr Kleinkind in den Schlaf tragen oder stillen zu müssen, weil das Grundbedürfnisse sind, an denen sich nicht rütteln lässt, möchte ich zu Bedenken geben:

Es gibt kein Bedürfnis danach, in den Schlaf gestillt oder getragen zu werden. Genauso wenig wie es ein Bedürfnis nach Schokoladenpudding, Fernsehen im Bett oder Date Nights für Eltern gibt.

Das alles sind nur sehr effektive Strategien, bestimmte Bedürfnisse zu erfüllen.

 

Wenn wir Eltern das verstehen, eröffnet uns das die Chance, in schwierigen Situationen neue Strategien für bestehende Bedürfnisse zu entwickeln – und zwar sowohl mit unseren Kindern als auch bei uns selbst.

Verwechseln wir Strategien mit Bedürfnissen, stehen wir immer wieder vor scheinbar unlösbaren Situationen: Das Kind will Stillen im Bett, Mama will Ausgehen mit Freundinnen – da gibt es kein Zusammenkommen.

Sehen wir hingegen die Bedürfnisse, die dahinter stehen (das Bedürfnis nach Nahrung, Nähe und Geborgenheit beim Kind, das Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmtheit bei der Mutter) eröffnen sich plötzlich Möglichkeiten, beides miteinander vereinbart zu kriegen.

Vielleicht kann auch eine andere vertraute Bezugsperson dem Kind die Nähe, die Wärme und die Geborgenheit geben, die es zum Einschlafen braucht – so dass alle Bedürfnisse erfüllt sind, nur eben mit einer anderen Strategie. Vielleicht lässt sich aber auch das mütterliche Bedürfnis nach Autonomie und Selbstbestimmung anders als mit einem Ausgeh-Abend allein erfüllen – etwa, in dem sie sich mit ihren Freundinnen bei sich zu Hause trifft, oder indem sie ihr Stillkind mitnimmt zu einer Freundin.

Bei all dem geht es nicht darum, die Bedürfnisse von Eltern über die von Kindern zu stellen oder umgekehrt, und erst recht nicht darum, die Bedürfnisse kleiner Kinder abzuwerten oder ihnen zu unterstellen, sie täten nur so, als bräuchten sie all diese Dinge, nach denen sie verlangen. Nein: Alle Bedürfnisse, inbesondere aber das nach beständiger Nähe und Geborgenheit, sind in den ersten Lebensjahren absolut unverhandelbar. Doch die Strategien, mit denen Eltern dieses Nähe-Bedürfnis (und alle anderen) erfüllen – die dürfen wir immer wieder neu unter die Lupe nehmen. Das ist es, was unsere Kinder wirklich von uns brauchen.

Foto: Herzog Fotografie – vielen Dank!