Ein Klaps auf die Finger oder auf den Po – gewiss kein Grund stolz zu sein. Aber deshalb gleich professionelle Hilfe holen? Unbedingt, sagen ein Gewaltberater und eine junge Mutter. Und berichten, was dabei passiert.
Carina* war gerade zum zweiten Mal Mutter geworden und stillte im Wohnzimmer ihre kleine Tochter, als plötzlich ihr zweijähriger Sohn angerannt kam und dem Baby mit Wucht auf den Kopf haute. Die Kleine schrie, der Große erschrak, und Carina – hob ihre Hand und schlug dem kleinen Jungen einmal kräftig auf die Finger. „Das passierte blitzschnell und wie in Trance“, erzählt sie heute. „Und direkt danach brach ich in Tränen aus und konnte gar nicht mehr aufhören zu weinen.“ Als Carina ihrer Hebamme von dem Vorfall erzählt, horcht diese auf. Denn wenn Eltern plötzlich zuschlagen, steckt immer etwas dahinter. „Ich hatte das große Glück, dass meine Hebamme eine therapeutische Zusatzausbildung hatte“, sagt Carina. „So erkannte sie schnell, dass bei mir etwas im Argen lag, und bot mir ihre Unterstützung an.“
Eltern wie Carina gibt es in Deutschland viele. Sie haben ganz bewusst Kinder bekommen und legen großen Wert darauf, mit ihnen freundlich und respektvoll umzugehen. Gewalt gegenüber Kindern lehnen sie strikt ab. Und schlagen eines Tages trotzdem unvermittelt zu.
Aber warum? Carina versteht es einfach nicht: Sie liebt ihren kleinen Sohn über alles. Nie hatte sie den Impuls, ihm weh zu tun. Bis zur Geburt ihres zweiten Kindes. Gemeinsam mit ihrer Hebamme und Therapeutin arbeitet sie heraus, warum: Ihr zweites Kind ist eine Tochter. Ein kleines Mädchen, wie sie es einst war. Die Geburt war traumatisch, die Methoden im Kreißsaal brachial: Mit aller Macht warf sich ein Arzt auf ihren Bauch, um das Kind herauszudrücken. Erst jetzt wird Carina bewusst, was diese Erfahrung in ihr ausgelöst hat. Blitzlichthafte Erinnerungsfetzen tauchen in ihr auf, an Situationen voller Angst, Schmerz und Ohnmacht. Klapse, Ohrfeigen und Kopfnüsse, die noch nach über dreißig Jahren ihr Herz bis zum Hals schlagen und sie Sturzbäche weinen lassen. „Es klingt verrückt, aber ich hätte vor dieser Therapie behauptet, nie in meinem Leben geschlagen worden zu sein“, erzählt Carina. „Und nun kamen plötzlich diese Erinnerungen hoch, zusammen mit dem unbändigen Impuls, mein neugeborenes kleines Mädchen mit aller Macht vor ähnlichen Erfahrungen zu schützen – und damit auch vor ihrem großen Bruder.“
Nicht jeder, der als Kind geschlagen wurde, schlägt irgendwann seine Kinder. Doch wenn Eltern ihre Kinder schlagen, sind sie meist als Kinder selbst geschlagen worden. Warum das so ist, erklärt der Traumatherapeut Arne Hoffmann in dem Buch „Die geprügelte Generation“ (Klett-Cotta, 19,95 Euro) so: „Wenn es ernst wird, wenn es um Stress geht, um erlebten maximalen Druck, dann klinkt die Vernunft sich bei vielen Leuten aus. Und dann fangen die Leute auf eine nicht vernünftige, irrationale Weise an, die Muster, die sie erlebt haben, nachzuvollziehen. Und wenn sie geprügelt worden sind, prügeln sie und bauen auf diese Weise Stress ab oder versuchen es wenigstens. Und das sind ganz, ganz häufig unglückliche tragische Konstellationen.“
Carina erkennt: Wenn sie nicht nur ihre kleine Tochter, sondern auch ihren kleinen Sohn sicher vor Gewalt geschützt wissen will, muss sie zunächst ihrer eigenen Verletzungen annehmen. „In einer Therapiesitzung sollte ich beispielsweise im Rahmen einer Phantasiereise mich selbst als das kleine Mädchen, das ich einmal war, auf den Schoß nehmen und ihm all das geben, was es braucht, um sich bedingungslos geliebt zu fühlen“, berichtet Carina. „Das klang in meinen Ohren furchtbar esoterisch, ich hatte eine richtige Scheu dagegen – und dann war es so eine heilsame Erfahrung.“ Selten in ihrem Leben habe sie so viel geweint wie in diesen Therapiesitzungen, ergänzt sie. „Aber diese Tränen waren auch überfällig.“
„Gefühle sind der Schlüssel, wenn wir verstehen wollen, wie es zu Gewalt kommt“, erklärt der Pädagoge und zertifizierte Gewaltberater Markus Kreiser. „Und sie sind auch dann der Schlüssel, wenn wir nach Wegen aus der Gewalt heraus suchen.“ Mit Betroffenen erarbeitet er deshalb zunächst, welches Gefühl zuerst da war, vor der Wut und vor dem Schlag: War es Angst? War es Trauer? War es Scham? „Dabei ist es wichtig, dass Eltern erkennen, dass niemals das Verhalten des Kindes der Grund für die Eskalation war“, so Kreiser, „sondern immer eigene dunkle Gefühle, denen sie zu lange keine Beachtung geschenkt haben.“
Im Zuge ihrer Therapie stellt Carina fest: Wann immer sie die Wut packt, kann sie sich selbst nichts mehr spüren. Da ist keine Liebe zu ihren Kindern mehr, keine Feinfühligkeit für ihre Bedürfnisse, keine Sorge um ihr Wohlbefinden. Das einzige, was sie in diesen Momenten noch spürt, ist der unbändige Impuls, ihre Hand zu erheben. Heute legt Carina in solchen Momenten ihre Hand stattdessen auf ihr Herz, bis sie es wieder schlagen spürt. Bis die liebevollen, die sanften und die schützenden Gefühle zurückkommen.
„Aus der Gewaltforschung wissen wir, dass jeder Mensch in Extremsituationen seinem ganz individuellen Eskalationsmuster folgt“, erklärt Markus Kreiser. „Manche fressen alles in sich hinein und explodieren dann förmlich, andere werden ganz langsam immer wütender, wieder andere überspielen ihre Wut mit übertriebener Fröhlichkeit, die dann plötzlich in blanken Hass umschlägt.“ Gewaltberater wie er legen gemeinsam mit Betroffenen dieses innere Drehbuch frei. Und entwickeln dann Strategien, die wie ein Notausgang funktionieren: Punkte innerhalb der Eskalationskaskade, an denen man aussteigt statt weiterzumachen, dank eingeübter neuer Strategien.
„Meine Therapeutin fragte mich, ob es einen Menschen in meinem Leben gibt, dem ich bedingungslos vertrau, der mich stärkt und der mir gut tut“, erinnert sich Carina. Zum Glück hat sie einen solchen Menschen in ihrem Leben: Ihre beste Freundin Zoe. „Jetzt hole ich mir jedes Mal, wenn ich die Wut in mir aufsteigen würde, Zoe zur Verstärkung“, erzählt Carina. Manchmal ruft sie ihre Freundin dann tatsächlich an, manchmal denkt sie auch nur fest an sie – aber immer hilft ihr das Gefühl, mit ihrer Wut und Angst und Überforderung in diesem Moment nicht allein zu sein.
„Eltern fühlen sich nach einem Klaps oder einer Ohrfeige zwar häufig schuldig, bagatellisieren das Geschehene aber gleichzeitig in dem sie etwa sagen, ihnen sei eben die Hand ausgerutscht“, erklärt Markus Kreiser. Manche flüchteten sich auch in die Schutzbehauptung, ein paar hinter die Löffel habe ihnen als Kind schließlich auch nicht geschadet. Professionelle Unterstützung suchten sich die wenigsten. „Dabei wissen wir, dass Kinder nach Gewalterfahrungen auch dann noch leiden, wenn an der Oberfläche wieder alles gut aussieht“, so Kreiser. „Denn sie wissen nie: Wann passiert es das nächste Mal?“
Ihre Geschichte, sagt Carina, habe sie erzählt, um anderen Müttern und Vätern Mut zu machen: „Ich weiß, wie schwer es ist, sich einzugestehen, sein eigenes Kind geschlagen zu haben und deshalb Hilfe zu brauchen“, sagt sie. „Aber ich weiß auch, dass es möglich ist, aus diesem Muster auszubrechen und seinem Kind ehrlich versprechen zu können: Ich werde dich nie wieder schlagen – Ehrenwort!“
*Name geändert
Dieser Artikel erschien ursprünglich im Jahr 2013 in der Zeitschrift Eltern.
Foto: Herzog Fotografie – vielen Dank!
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